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Wolfgang Sofsky
Karl Kraus: Von den Gesichtern

Man wird zugeben, daß in einer Kultur, die immerzu von Verantwortung redet, ohne zu wissen, worin sie besteht, früher oder später die Frage aufkommen mußte, wofür die verdächtigen Subjekte überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden können: für ihr Tun oder ihr Nichtstun, für ihre Meinungen und Neigungen, ihre Irrtümer, ihre Lügen, für ihre Stimmungen und Gefühle, für ihre Haltungen, ihren Charakter, für ihr Aussehen, ihre Nasen und Augen? Sind sie verantwortlich für ihre Gesichter oder für die Art, in der sie ihr Gesicht zur Schau tragen? Hier eine Antwort:

„Was mich immer tief alteriert hat, das ist die Selbstverständlichkeit, mit der die meisten Menschen ihr Gesicht tragen. Gefiel mir eines oder das andere nicht, so kam, wie um das Maß voll zu machen, die Beschönigung eines unbeteiligten Dritten dazu: Der Mann könne doch für sein Gesicht nichts. Kein Standpunkt ist haltloser. Denn die Verantwortung, die einer für seine Nase übernimmt, ist mindestens so begründet wie die, die er für seine politische Überzeugung trägt. Für die politische Überzeugung kann der Mensch in den meisten Fällen überhaupt nicht verantwortlich gemacht werden, da sie ihm von Geburt oder durch fehlerhafte Erziehung, durch mitgebrachte Schwäche der geistigen Veranlagung oder durch das verderbliche Beispiel der Umgebung anhaftet. Dagegen entspringt eine krumme Nase einem Mangel an Rücksicht, der bei der reichen Auswahl an Sekretionsgelegenheiten mehr als peinlich berührt. Doch man macht die Beobachtung, daß die Träger eines Gesichts, dem die Schöpfung den Stempel der Ausschußware deutlich aufgeprägt hat, nicht nur nicht aus Bescheidenheit vor der Verschandelung des Weltbildes zurückschrecken, sondern alles dazu tun, sich als das Merkziel der Betrachtung ihren Nebenmenschen zu empfehlen. Man kann sicher sein, daß einer, der Henkelohren hat, nie auf den Vorhalt hören würde, sein Gesicht gleiche dem Nachttopf des Königs Attila, sondern in dem Glauben leben wird, es gleiche dem Bildnis des Dorian Gray. Keine Spur von reuiger Ergebung in die Einsicht, verpfuscht zu sein. Viemehr läßt die Zuversicht, die aus solchen Zügen spricht, darauf schließen, der glückliche Besitzer halte sein Gesicht für die endgültige unter den zahllosen möglichen Formen, ja für eine solche, die bei künftigen Schöpfungsakten als die allein maßgebende und modemachende in Betracht kommen wird. Die angeborene Schönheit ist viel zu ehrgeizig, um sich für vollkommen zu halten; aber nichts geht über den Stolz der angeborenen Häßlichkeit. Wer sie von der Verantwortung freispricht , beleidigt ihr Selbstbewußtsein. Das „Hier stehe ich und kann nicht anders“ ist eine Entschuldigung, die sogar eine krumme Nase aufrecht hält.“

Karl Kraus, Von den Gesichtern, in: Die Fackel Nr. 256, vom 5.6.1908.

Hundert Jahre später tragen die Subjekte nicht nur stolz ihre erworbene Häßlichkeit zur Schau, schließlich soll ja niemand für Doppelkinn oder Schwemmwangen verachtet werden; noch stolzer führen sie ihre, durch Skalpell und Spritzen erworbene Schönheit vor, auch wenn sich das faltenlose Gesicht kaum mehr bewegen läßt. Fatal wirken indes jene, nicht einmal seltenen Fälle, in denen jemand, nach unzähligen Schnitten und Spritzen, glaubt, die derart erworbene Häßlichkeit sei der Inbegriff wahrer Schönheit.

© WS 2014