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Wolfgang Sofsky
Der dritte Walzer. J.W.Goethe: Werther

Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblicke gewiß schwindet alles andere vor ihr.

Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze. – »Es ist hier so Mode, »fuhr sie fort, »daß jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann’s auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie und bitten sich’s von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen«. – ich gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr Tänzer inzwischen meine Tänzerin unterhalten sollte.

Nun ging’s an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die Sphären um einander herumrollten, ging’s freilich anfangs, weil’s die wenigsten können, ein bißchen bunt durcheinander. Wir waren klug und ließen sie austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging, und – Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst mich! „

Aus: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Erstes Buch, am 16.Junius.

Lotte und Werther tanzen noch den „Deutschen“, einen Drehtanz im 3/4- oder 3/8 – Akt. Er gilt als Vorläufer des rascheren Walzers. Das Paar umfaßt sich mit einem Arm, die beiden freien Hände sind ineinandergelegt, der Arm ausgetreckt. Die Paare bilden einen Kreis und umrunden, sich fortlaufend drehend, den Saal. Im Innern des Kreises versuchen sich die Paare in anmutigen Verschlingungen der Arme und zierlichen Stellungen der Körper. Der Tanz ist eine günstige Gelegenheit, in der Öffentlichkeit eines Balls sich hautnah zu begegnen. Wegen der engen Körperhaltung und der „unzüchtigen Betastung“ galt der Tanz da und dort als unmoralisch. In Bayern und Salzburg war er in den 1760er Jahren verboten, in der Reichsstadt Wetzlar offenbar nicht. Kaiser Joseph II. gab für Bälle in den Redoutensälen der Hofburg „Deutsche“ in Auftrag, es gibt solche Tänze von Haydn, Mozart und Beethoven. Schuberts Walzer heißen häufig noch „deutsche Tänze“. Nach dem Wiener Kongreß beschleunigte sich das Tempo und aus dem „Deutschen“ wurde der Walzer.

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