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Wolfgang Sofsky
R.M.Rilke: Über den Besitz der Bücher

 rilkeaIn dem „Florenzer Tagebuch“, das der 23jährige Rilke gar nicht Florenz schrieb, findet sich eine Bemerkung über die imaginäre Kraft und die Aneignung von Büchern. Man fragt sich, wie Rilke es mit E-books gehalten hätte, die man auch in Händen halten, aber kaum besitzen kann. Ein Buch zu „besitzen“ heißt, sich ihm ganz und gar zu widmen, ohne störende Ablenkung mit ihm vertraut zu sein. Andererseits: die Flüchtigkeit der Erscheinung muß der Phantasie nicht notwendig abträglich sein, sie schweift jedoch eher in die Weite und sedimentiert sich nicht in Erfahrungen und Erinnerungen. Nicht umsonst wollten lesende Kinder einst ihre längst zerfledderten Lieblingsbücher nicht aus der Hand geben.

„Nur der kann wirklich über ein Buch oder ein Bild klar sein, der es besitzt. Gelegentlich gesehene Galeriebilder verwirren. Wir nehmen in den Augen neben ihnen – selbst wenn sie in einem Raume isoliert hängen – den Eindruck dieses fremden Raumes, irgendeine Geste des Galeriedieners und vielleicht überdies die Erinnerung an einen Geruch mit, der nun in ungerechter Weise unser Gedenken aufdringlich begleitet….
Bei Büchern ist das ganz ebenso. Ein mir gewohntes Exemplar erzählt mir seine Sache mit aller Vertraulichkeit. Je öfter ich es benütze, je näher liegt es mir, ihm einmal die Geschichte zu erzählen, während es den Zuhörer spielt. Ein befreundetes Buch geht gern und willig diesen munteren Wechsel ein, und es erwachsen gar schöne Situationen daraus. Mit der Zeit steht in dem Buch das Zehnfache von dem, was es wirklich gedruckt enthält; ich lese meine eigenen Erinnerungen und Gedanken immer wieder mit. Es ist nicht mehr in dem Deutsch von dem und jenem geschrieben, es ist mein ureigenstes Idiom. Aber dasselbe Buch in einer anderen Ausgabe ist wie ein Mensch, der mir irgendwo in der Fremde begegnet und von dem ich kaum zu sagen weiß, ob er mir nur vom Vorübergehen oder vom Verkehr bekannt sei.“

(R.M.Rilke, Florenzer Tagebuch, in: Tagebücher aus der Frühzeit, FfM 1973, S. 54f.)

© W.Sofsky 2014