Pessoa: Phantasie – depersonalisiert
In den nachgelassenen Aufzeichnungen Fernando Pessoas findet sich auch ein Hinweis auf die Genese der Phantasie. Sie bedeutet nichts anderes als eine Entpersönlichung, eine Entsubstantivierung der Person, die sich in diverse seelische Zustände und, wenn so will, Autoren auflöst. Diese Poetik der Imagination ist meilenweit entfernt von der Idee, ein Autor exprimiere sein Inneres oder das, was er selbst zu sein glaubt:
„Der erste Grad der lyrischen Dichtung ist derjenige, in dem der Dichter sich auf sein Gefühl konzentriert und dieses Gefühl zum Ausdruck bringt. Ist er jedoch ein Wesen mit wandelbaren und mannigfaltigen Gefühlen, so wird er gleichsam eine Vielzahl von Persönlichkeiten ausdrücken, die nur durch Temperament und Stil zusammengehalten wird. Einen Schritt weiter und wir haben einen Dichter vor uns, der ein Wesen mit mannigfaltigen und fiktiven Gefühlen, eher phantasie- als gefühlvoll ist und jeden seelischen Zustand mehr mit der Intelligenz als mit dem Empfindungsvermögen erlebt. Dieser Dichter wird sich wie eine Vielzahl von Persönlichkeiten aussprechen, die nicht mehr durch Temperament und Stil geeint wird, sondern allein durch den Stil; denn das Temperament ist durch die Phantasie ersetzt worden und das Gefühl durch die Intelligenz. Noch einen Schritt weiter auf dem Wege zur Entpersönlichung oder, besser gesagt, Phantasie, und wir haben den Dichter vor uns, der sich in jeden seiner verschiedenen geistigen Zustände so hineinlebt, daß er seine Persönlichkeit vollkommen aufgibt, derart daß er, indem er jeden seelischen Zustand analytisch erlebt, aus ihm gleichsam den Ausdruck einer anderen Person gewinnt; dabei wird sogar der Stil mannigfaltig. Ein letzter Schritt und wir finden den Dichter, der verschiedene Dichter zugleich ist, einen dramatischen Dichter, der Lyrik schreibt. Jede Gruppe unmerklich verwandter Seelenzustände wird dabei zur Persönlichkeit mit eigenem Stil, deren Gefühle sich von den typischen Gefühlserlebnissen des Dichters selbst unterscheiden, ja ihnen durchaus entgegengesetzt sein können. Und so kommt die lyrische Dichtung… zur dramatischen Dichtung, ohne dramatische Form anzunehmen.“
© WS 2019