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Wolfgang Sofsky
„bewußt sein“
Wenn die Fliegen im geschlossenen Glas umherirren, ist es nützlich das Glas etwas zu lupfen, um den Geistern einen Ausweg zu öffnen. So scheint es sich auch beim Streit über das „Bewußtsein“, seine Natur und Existenz, zu verhalten. Es ist daher zweckmäßig, auf die Verwendung der Begriffe zu achten. Bewußtes ist, so scheint es, sprachlich mitteilbar. Bewußtsein, von dem man nichts bemerkt und von dem man nichts mitteilen kann, gibt es nicht. Wenn ein Mensch nicht sagen kann, was ihm gerade bewußt ist, dann ist ihm gar nichts bewußt. Vielleicht war ihm früher etwas bewußt, und er hat es vergessen. Dann ist es ihm zumindest jetzt nicht bewußt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist ihm nur das bewußt, was er jetzt auch mitteilen kann. So legt es die Gebrauchsregel für das Wort „bewußt“ fest. Auch die Umkehrung gilt: Was ein Mensch sagt, das ist ihm bewußt, unabhängig davon, wie laut und zu wem er es sagt. Auch was einer im Stillen zu sich selbst sagt, ist ihm bewußt. Will man also wissen, was einem anderen bewußt ist, so braucht man ihn nur danach zu fragen. Es wäre ohne Sinn, von jemandem, der deutlich sagt, er habe Geburtstag, zu behaupten, er sei sich dessen wohl nicht bewußt. Wenn ein Satz jedoch unsinnig ist, dann verstößt er derart gegen die Regeln der Sprache, daß mit ihm keine Aussage gemacht werden kann. So ergibt sich, daß der Satz „Was ein Mensch sagt, dessen ist er sich auch bewußt“ keine empirische Behauptung ist, sondern eine logische Regel, die den Gebrauch der Wendung „sich einer Sache bewußt zu sein“ bestimmt.
Vielerlei Dinge geschehen, ohne daß dies dem Menschen bewußt ist. Er atmet, setzt einen Fuß vor den anderen, trägt seine Aktentasche, räuspert sich, fährt mit den Fingern durch die Haare. Er nimmt dies und jenes wahr, ohne daß es ihm bewußt ist. Auch weiß er unendlich viel, den Vornamen von Teufels Großmutter, den Geburtstag der Tochter, den Namen des Hundes, die nächste Bahnstation, aber nichts ist ihm bewußt, solange er nicht daran denkt oder solange man ihn danach fragt und er die Antwort gibt. Die einzige Tätigkeit indes, von der man sagt, daß sie immer bewußt ist, ist das Sprechen. Gewiß mag mancher reden, ohne daß er recht weiß, was er da von sich gibt. Doch diese Redeweise bezieht sich auf den Sinn dessen, was einer sagt, und betrifft nicht die Tatsache, daß demjenigen, der etwas sagt, stets auch bewußt ist, was er gerade sagt.
Zuletzt: Die menschliche Seele ist naturgemäß umfassender als das, was einem Menschen gerade bewußt ist. Sie umfaßt auch das Unausgesprochene, das Unaussprechbare, das Totgeschwiegene, Verdrängte, das Unbewußte. Daß derlei Erlebnisse bewußt werden, heißt daß sie ausgesprochen werden. Bewußtwerden fällt hier zusammen mit der Überwindung der Sprachlosigkeit.
© W.Sofsky 2016