Wolfgang Sofsky
Bruegel: Blindensturz
Es muß niemanden erstaunen, daß die Kirche jenseits des Baches unweit von Brüssel in einer flandrischen Ortschaft steht. Nacheinander werden die Blinden in den Graben stürzen, denn ein Blinder folgt dem anderen. Der erste liegt schon im Wasser, der zweite stürzt ihm gerade nach und wendet dem Betrachter erschreckt die leeren Augenhöhlen zu; der dritte hat schon einen verdächtigen Ruck gespürt und stellt sich vorsichtig auf die Fußspitzen, indes der vierte noch vertrauensvoll die Hand auf die Schulter des Vordermanns legt. Aber spürt er nicht, daß der Fortgang in die Irre führt? Der Letzte ist noch ganz vertrauensselig in sich selbst versunken. Je weiter hinten einer in der Kette läuft, desto weniger erlebt er, was an der Spitze des Blindenzugs geschieht. Doch am Ende fallen sie alle in die Grube. Bruegels spätes Gemälde von 1568 kann als Warnung vor den Irrwegen des falschen Glaubens gelesen werden oder als Sinnbild der unausweichlichen Katastrophe, wenn geistige Blindheit und Gefolgschaftstreue eine unselige Allianz eingehen.
© W.Sofsky 2015