Wolfgang Sofsky
Hungermord
Eine Erinnerung an den Holodomor in der Ukraine

„Und die Bauernkinder: Hast Du die Kinder in den deutschen Konzentrationslagern gesehen? In der Zeitung waren Photos abgedruckt. Genauso sahen sie aus: Köpfe, schwer wie Kanonenkugeln, Hälse, dünn wie die von Störchen, an den Armen und Beinen sah man, wie sich jedes Knöchelchen unter der Haut bewegte, wie die paarigen miteinander verbunden waren, das ganze Skelett war mit der Haut wie mit gelbem Mull bespannt. Die Gesichter der Kinder waren alt und zerquält, als wären sie 70 Jahre alt. Und im Frühling schienen sie überhaupt keine Gesichter mehr zu haben. Statt dessen hatten sie vogelgleiche Köpfe mit Schnäbeln, oder Froschköpfe – dünne, breite Lippen und manche von ihnen erinnerten an Fische mit offenen Mündern. Keine menschlichen Gesichter.“
So schildert Wassili Grossman, sowjetischer Romancier jüdischer Herkunft, in „Alles fließt“ seine Eindrücke von dem Hungertod in der Ukraine. Grossman war Augenzeuge des Massensterbens im Winter 1932/3, später diente er als Kriegskorrespondent und war – neben Ilja Ehrenburg – Mitverfasser des frühen Schwarzbuchs über den Holocaust, das in der UdSSR nie veröffentlicht wurde. Auch die Dokumentation „Die Hölle von Treblinka“, die bei den Nürnberger Prozessen als Dokument der Anklage verwendet wurde, stammt aus W.Grossmans Feder.
Wer verstehen will, weshalb viele Ukrainer wenig Neigung für die postsowjetische Despotie haben, möge sich daran erinnern, daß die Ukraine – neben Polen, Weißrußland, Moldavien, den baltischen Ländern – zu jenen blutgetränkten Landstrichen gehört, in denen im letzten Jahrhundert deutsche und russische Okkupateure Millionen von Menschen töteten. Von 1932/3 bis 1945 war das heutige Staatsgebiet Zentrum sowjetischer und nationalsozialistischer Ausrottungskampagnen. Bevor im Zweiten Weltkrieg die deutsche Wehrmacht, Ordnungspolizei und SS-Einsatzgruppen das Land mit Massakern überzogen, bediente sich der sowjetische Terrorapparat einer simpleren Methode. Er hungerte das Land aus. Etwa 3.5 Millionen Menschen, darunter etwa 1.5.Millionen Juden, wurden von den Deutschen zwischen 1941 und 1944 getötet, weitere 3.5 Millionen fielen dem sowjetischen Massenmord zum Opfer, davon über 3.3, Millionen dem Hungermord im Winter 1932/3.
Dieser Massentod war keine Folge eines Zufalls der Natur, eines Unfalls der Sozialgeschichte oder ein unbeabsichtigter Nebeneffekt des sozialistischen Fortschritts, sondern ein absichtlich herbeigeführtes Makroverbrechen, begangen von Brigaden der kommunistischen Partei, KP-Aktivisten aus den Städten, jungen Komsomolzen, Agenten der Geheimpolizei OGPU (Nachfolger der Tscheka und Vorläufer des NKWD, KGB) und der lokalen Polizei, alles auf Geheiß von Stalins Machtzentrale und seiner Emissäre Molotow, Kaganowitsch, Postyschew. Schon in den Jahren davor waren im Zuge der Zwangskollektivierung zehntausende Bauern hingerichtet oder aus der Ukraine in die Lager des Gulag deportiert worden. Doch die Repression richtete sich nicht nur gegen die traditionelle Agrargesellschaft, sondern gegen die ukrainische Nation insgesamt. Dem Angriff gegen die Bauernschaft ging die
summarische Verhaftung, Verschickung oder Tötung der ukrainischen Intelligenz voraus. Schon im Sommer 1929 waren die Sprecher der Nation, tausende Akademiker, Anwälte, Dorflehrer, Wissenschaftler und Priester der ukrainischen orthodoxen Kirche erschossen worden. Nationalkommunistische Kader, welche den Staatsterror zu mildern oder zu verhindern suchten, wurden ebenfalls verfolgt und umgebracht.
Die Hungersnöte zu Beginn der 30er Jahre waren eine Folge sowjetischer Agrarpolitik, der Hungermord von 1932/3 war ein vorsätzliches Verbrechen. Die Hungersnot wurde gezielt von den Städten auf das Land umgelenkt, gegen die ukrainische Bauernschaft. Das Getreide, das sie hätte retten können, wurde vor ihren Augen in Zügen zu den Häfen am Schwarzen Meer gebracht und gen Westen exportiert oder es verrottete an irgendeiner Sammelstelle. Mehrere Dekrete summierten sich zu einer gezielten Politik des Hungertods. Bauern mußten alle Nahrung abgeben, jeden Getreidevorschuß, jede Kuh, jedes Huhn. Rollkommandos führten Razzien durch, streiften durch die Dörfer, beschlagnahmten in den Häusern, Hütten, Speichern und Schobern alles Eßbare, neben Korn auch Rüben, Zwiebeln, getrocknete Pilze oder Trockenobst. Auch das Saatgut für die nächste Saison wurde requiriert und damit jede Überlebensgrundlage zerstört. Wer sich nicht im Zustand des Verhungerns befand, wurde des Widerstands verdächtigt. Wer noch etwas zu essen besaß, galt als Verbrecher. Ganze Dörfer starben aus. Gleichzeitig wurden die Grenzen verriegelt, damit niemand die Flucht ergriff. Wachtürme auf den Feldern hinderten die Bauern daran, die Gegend zu verlassen. Eisenbahner wurden angehalten, keine Bauern in die Züge zu lassen. Das Land wurde zu einem riesigen Zuchthaus, dessen Insassen jede Nahrung entzogen war. Lieferungen in die Hungerbezirke wurden beschlagnahmt. Unzählige wurden niedergeschossen, wenn sie in die Städte oder über die Grenzen nach Polen, Rumänien oder den Nordkaukasus fliehen wollten. Die Blockade verschaffte dem Hungertod freie Bahn.
Die Täter lebten von der Beute, die sie plünderten und requirierten. Und sie ergötzten sich an der unverhofften Macht, die sie auf einmal hatten. Der Massentod war ihr Triumph. Sie aßen sich satt, urinierten in die Fässer mit eingelegten Lebensmitteln, sie hatten ihren Spaß, indem sie die Ausgeraubten wie Hunde bellen und winseln ließen. Sie betranken sich, und wenn sie nachts einer Frau habhaft wurden, vergewaltigten sie ihr Opfer, bevor sie es ausraubten und dem Hunger überließen.
Schon im Winter starben viele, doch im März 1933 verschärfte sich die Lage zusehends. Grossman berichtet: „Als der Schnee zu schmelzen begann, setzte wirkliche Hungersnot ein. Menschen hatten geschwollene Gesichter und Beine und Bäuche. Sie konnten den Urin nicht mehr halten….Und nun aßen sie einfach alles. Sie fingen Mäuse, Ratten, Spatzen, Ameisen und Regenwürmer. Sie mahlten Knochen zu Mehl und machten dasselbe mit Leder und Schuhsohlen, sie zerschnitten alte Häute und Pelze, um eine Art Nudeln herzustellen, und sie kochten Leim. Und als das Gras zu wachsen begann, fingen sie an, die Wurzeln auszugraben und die Blätter und Knospen zu essen; sie nutzten alles, was es gab.“ Nach und nach kehrte Stille in den Landstrichen ein. Alle Tiere waren getötet. Die Sterbenden schrien nicht. Auf den Schwarzmärkten wurde nur noch eine Fleischsorte gehandelt, das Fleisch von Menschen.
Der Hungermord heißt in der Landessprache „Holodomor“ („Tötung durch Hunger“). Wie viele Genozide ist er Gegenstand und Streitobjekt nationaler Vergangenheitspolitik. Die Sowjetunion hat das Verbrechen lange Zeit totgeschwiegen. Die folgende Despotie bemüht Ausreden und Relativierungen. Sie verhält sich ähnlich wie die Türkei, die eine Erwähnung des Völkermords an den Armeniern für eine nationale Beleidigung hält. Aber aus der Tatsache, daß ein Regime neben dem Völkermord A noch weitere Völkermorde B und C beging, folgt nicht, daß A kein Völkermord war. Und aus der Tatsache, daß außer Millionen Ukrainern auch Millionen Menschen anderer Nationalität (einschließlich unzähliger Russen) Opfer der Hungerpolitik waren, folgt nicht, daß der Holodomor kein Völkermord war. In die leeren Dörfer rückten russische Kolonisten nach, von denen sich jedoch manche weigerten, in den Häusern zu leben, die nach Tod rochen.
In der Ukraine hat man sich nach Öffnung der Archive auch um internationale Anerkennung des Verbrechens bemüht und Untersuchungen über die Tat angestellt sowie Denkmäler errichten lassen. Historiker streiten sich gelegentlich darüber, ob die Bezeichnung „Völkermord“, wie sie 1948 von der UN-Vollversammlung beschlossen wurde, für den Holodomor anwendbar ist und ob die damalige Definition, die auf Betreiben der sowjetischen Außenpolitik damals Massenmorde an sozialen oder politischen Großgruppen ausschloß, juristisch, ethisch und analytisch sinnvoll ist. Man mag dies für einen Streit um Worte halten. Doch sagen die Worte auch etwas darüber, wer wir sind und wie wir uns selbst verstehen. Die Nationalsozialisten benutzten für den Mord an den europäischen Juden die Euphemismen: „Endlösung“ oder „Sonderbehandlung“, Stalins Schergen nannten ihre Verbrechen „Säuberung“, „Evakuierung“, „Umerziehung“. Und was besagt die Weigerung, den Holodomor als „Genozid“ zu bezeichnen über das Selbstverständnis und die Urteilskraft der Zeitgenossen in Deutschland, Europa und andernorts?
© Wolfgang Sofsky 2014