Schlagwörter
Goya: Niemand kennt sich

Ein weibisch aufgeputzter General bändelt mit einem hübschen Frauenzimmer an. Ein Seidenkleid trägt sie und zierliche Schuhe. Tief beugt er sich zu ihr herab und blickt ihr tief in die Augen. Er trägt eine weiße Maske, sie eine schwarze. Obwohl sie einander Aug´in Aug´ gegenüber stehen, sieht er nichts. „Nadie se conoce“ – „Niemand kennt sich“ notierte Francisco Goya unter diesem Capricho. Auch die Dame erkennt den Galan nicht, denn „alle wollen vorspielen, was sie nicht sind. Jeder täuscht jeden“. Im Hintergrund stehen die Gestalten mit grotesken Spitzhüten und beäugen das Paar, das keines ist. Die Welt ist ein Karneval, die Gesellschaft eine Larvenparade. Aber auch wenn keiner sein Gesicht verhüllte, wüßten sie dann, wer der andere ist und wer sie selbst sind? Ahnungslosigkeit ist die Regel und keine Folge übler Täuschung oder Selbsttäuschung. Da keiner des anderen Gedanken lesen kann, kann er nur so tun, als ob er wüßte, was der andere denkt, wer jener ist und was jener gerade von ihm denkt, der sich so viele Gedanken darüber macht, was jener wohl gerade im Sinn haben könnte.
© WS 2014