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Wolfgang Sofsky
Infiltration
Zuerst hat man über die Truppen jenseits der Grenze gerätselt, die man nur aus hoher Satellitenferne sah. Nun rätselt man über die wohlkoordinierten und mäßig bewaffneten Besatzer der Polizeistationen und Regierungsgebäude, die sich da und dort mit regulären ukrainischen Antiterroreinheiten Feuergefechte liefern. Sind es einheimische, aber prorussische Separatisten, Milizen, Privatarmeen, zugereiste Provokateure oder infiltirierte Spetsnaz-Trupps des russischen Militärgeheimdienstes (GRU), des Innenministeriums, oder sind es bereits die ersten Kompanien der Luftlandedivision? Mangels Kenntnis verbreitet man sich über die Lügen des russischen Außenamts und die Besorgnisse in deutschen Ämtern und übersieht dabei einen einfachen Sachverhalt.
Der Invasion geht die Infiltration voraus. Die Unruhen, die den Einmarsch rechtfertigen, wollen inszeniert sein. Diese Aufgabe obliegt weniger regulären Armeeeinheiten als kleinen Gruppen von eingeschleusten Spezialkräften, die meist verdeckt und nicht in martialischen Pseudokampfuniformen agieren, von denen man drolligerweise die Hoheitsabzeichen abgetrennt hat. Russische Spetsnaz-Trupps dürften seit Tagen, wenn nicht Wochen in der Ostukraine operieren. Ihre Aufträge sind: Erkundung feindlicher Bewegungen und Stellungen, Sichern möglicher Landezonen und Einmarschwege, Sabotage, Attentate, Entführung, Ausschaltung feindlicher Befehlszentren, heimliche Ausbildung und Anleitung einheimischer Überläufer und Kollaborateure, Desinformation und Streuen von Gerüchten, Markierung von Angriffsobjekten usw. Hausbesetzungen gehören im allgemeinen nicht zu ihrem Aufgabenbereich, allenfalls die Begleitung und Anleitung einheimischer Provokateure. Offene Feuergefechte meiden solche Trupps im allgemeinen, es sei denn die Invasion, die sie sofort entsetzt, steht kurz davor. Sie operieren nicht demonstrativ, sondern verdeckt. Tarnung und Überraschung bei höchster Feuerkraft und technisch optimaler Ausrüstung sind ihr üblicher Operationsmodus. Eigene Verluste meiden sie, auf Verhandlungen lassen sie sich eher selten ein.
Nun kann es zur Maskerade der Invasion gehören, daß Spezialkräfte ihren üblichen Aktionsmodus verlassen und sich zur Tarnung in militärische Amateure und Separatisten verwandeln. Auf einmal sind sie schlechter bewaffnet (AK47) als sonst, treten öffentlich auf, besetzen Häuser ohne taktischen, aber mit symbolischem Wert, liefern sich verlustreiche Scharmützel, die sie sonst binnen weniger Minuten für sich entschieden hätten. Sie mimen Separatisten und unterbieten demonstrativ ihr eigenes Trainingsniveau. Da die Dramaturgie der Invasion ein Theater öffentlicher Unruhen vorsieht, führen sie eine Kömodie auf, für die sie jedoch schlecht ausgebildet sind. Nirgendwo brechen öffentliche Unruhen simultan an verschiedenen Orten aus, nirgendwo besetzen wütende Bürger die beiden militärstrategisch wichtigsten Straßenachsen von der Hauptstadt in den Osten des Landes; nirgendwo tragen einheimische Milizionäre die gestreiften Shirts der fremden Armee, nirgendwo laufen verängstigte Minderheiten mit den erbeuteten Schutzschilden der kasernierten Polizei herum und bauen sie in die Barrikaden ein. Kurzum: Unter den „Separatisten“ agieren mit hoher Wahrscheinlichkeit reguläre russische Spetsnaz-Kommandos, welche die Aktionen planen, koordinieren, begleiten, vermutlich auch befehligen. Aber es sind keine Bataillone von fremden Spezialkräften, die alle diese Aktionen ausführen. Immerhin schafft ihre Anwesenheit soviel Verwirrung, daß man in den westlichen Hauptstädten nicht zu wissen scheint, ob die Invasion nun bereits begonnen hat oder nicht. Solange man aber glaubt, dies noch nicht wissen zu können, kann man sich weiterhin in blinde Hoffnungen flüchten.
© Wolfgang Sofsky 2014