Wolfgang Sofsky
Georg Simmel: Im Zwischenreich der Koketterie

Von Georg Simmel ist in diesen Tagen (wg. des feuilletonrelevanten Jahrestages) häufiger die Rede. Es scheint, als müsse jede Generation diesen Gelehrten neu entdecken. Sein Sinn für Zwischensphären (alles Soziale ist bekanntlich eine Sphäre des „Zwischen“), für Zwischentöne, für Bewegungen des Hin und Her läßt sich an unzähligen Materien zeigen. Ein vorzügliches Thema ist z.B. die Liebe als mittlerer Zustand zwischen Haben und Nichthaben oder die Gebräuche der Liebe zwischen Ja und Nein, Geben und Nichtgeben, Enthüllen und Verbergen, kurz: die Koketterie, die sich ja bekanntlich nicht nur in eroticis finden läßt. Darüber schreibt Simmel, mit gewohnt umständlicher Diktion, in dem nachgelassenen Sammelband „Philosophische Kultur“ (1923):
„Das Gefallen ist der Quell, aus dem jenes Haben und Nichthaben gespeist wird, wenn es für uns Lust oder Leid, Begehrung oder Befürchtung werden soll. Aber hier wie sonst läuft die Verbindung zwischen einem Besitz und seiner Schätzung auch in umgekehrter Richtung. Nicht nur wächst Wichtigkeit und Wert dem Haben und Nichthaben des Gegenstandes zu, der uns gefällt; sondern wo ein Haben und Nichthaben aus irgendwelchen anderen Ursachen heraus für uns Bedeutung und Betonung gewinnt, pflegt sein Gegenstand unser Gefallen zu erregen. So bestimmt nicht nur der Reiz eines käuflichen Dinges den Preis, den wir dafür zahlen mögen: sondern daß ein Preis dafür gefordert wird daß sein Erwerb nicht etwas Selbstverständliches, sondern nur mit Opfern und Mühen Gelingendes ist – das macht uns unzählige Male erst das Ding reizvoll und begehrenswert. Die Möglichkeit dieser psychologischen Wendung läßt die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in die Form der Koketterie hineinwachsen.
Daß die Kokette »gefallen will«, gibt an und für sich ihrem Verhalten noch nicht das entscheidende Cachet; übersetzt man Koketterie mit »Gefallsucht«, so verwechselt man das Mittel zu einem Zweck mit dem Triebe zu diesem Zweck. Eine Frau mag alles aufbieten, um zu gefallen, von den subtilsten geistigen Reizen bis zur zudringlichsten Exposition physischer Anziehungspunkte – so kann sie sich mit alledem noch sehr von der Kokette unterscheiden. Denn dieser ist es eigen, durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, »wie aus der Ferne« wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und Nichtgeben oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben, die sie gegeneinander spannt, indem sie sie doch wie mit einem Schlage fühlen läßt – es ist ihr eigen, durch diese einzigartige Antithese und Synthese Gefallen und Begehren zu wecken. In dem Verhalten der Kokette fühlt der Mann das Nebeneinander und Ineinander von Gewinnen- und Nichtgewinnen-Können, das das Wesen des »Preises« ist, und das ihm mit jener Drehung, die den Wert zum Epigonen des Preises macht, diesen Gewinn als wertvoll und begehrenswert erscheinen läßt.
Das Wesen der Koketterie, mit paradoxer Kürze ausgedrückt, ist dieses: wo Liebe ist, da ist – sei es in ihrem Fundament, sei es an ihrer Oberfläche – Haben und Nichthaben; und darum, wo Haben und Nichthaben ist – wenn auch nicht in der Form der Wirklichkeit, sondern des Spieles -, da ist Liebe, oder etwas, was ihre Stelle ausfüllt. Ich wende diese Deutung der Koketterie zunächst auf einige Tatsachen der Erfahrung an. Der Koketterie in ihrer banaleren Erscheinung ist der Blick aus dem Augenwinkel heraus, mit halbabgewandtem Kopfe, charakteristisch. In ihm liegt ein Sich-Abwenden, mit dem doch zugleich ein flüchtiges Sich-Geben verbunden ist, ein momentanes Richten der Aufmerksamkeit auf den Anderen, dem man sich in demselben Momente durch die andere Richtung von Kopf und Körper symbolisch versagt. Dieser Blick kann physiologisch nie länger als wenige Sekunden dauern, so daß in seiner Zuwendung schon seine Wegwendung wie etwas Unvermeidliches präformiert ist. Er hat den Reiz der Heimlichkeit, des Verstohlenen, das nicht auf die Dauer bestehen kann, und in dem sich deshalb das Ja und das Nein untrennbar mischen. Der volle En-face-Blick, so innig und verlangend er sei, hat nie eben dies spezifische Kokette. In derselben Oberschicht koketter Effekte liegt das Wiegen und Drehen in den Hüften, der »schwänzelnde« Gang. Nicht nur, weil er durch die Bewegung der sexuell anregenden Körperteile sie anschaulich betont, während zugleich doch Distanz und Reserve tatsächlich besteht – sondern weil dieser Gang das Zuwenden und Abwenden in der spielenden Rhythmik fortwährender Alternierung versinnlicht. Es ist nur eine technische Modifikation dieser Gleichzeitigkeit eines angedeuteten Ja und Nein, wenn die Koketterie über die Bewegungen und den Ausdruck ihres Subjekts selbst hinausgreift. Sie liebt die Beschäftigung mit gleichsam abseitsliegenden Gegenständen, mit Hunden oder Blumen oder Kindern. Denn dies ist einerseits Abwendung von dem, auf den es abgesehen ist, andrerseits wird ihm doch durch jene Hinwendung vor Augen geführt, wie beneidenswert sie ist; es heißt: nicht du interessierst mich, sondern diese Dinge hier – und zugleich: dies ist ein Spiel, das ich dir vorspiele, es ist das Interesse für dich, dessentwegen ich mich zu diesen anderen hinwende. Will man die Ausschlagspole der Koketterie begrifflich festlegen, so zeigen sie eine drei fache mögliche Synthese – die schmeichlerische Koketterie: du wärst zwar imstande, zu erobern, aber ich will mich nicht erobern lassen; die verächtliche Koketterie: ich würde mich zwar erobern lassen, aber du bist nicht dazu imstande; die provokante Koketterie: vielleicht kannst du mich erobern, vielleicht nicht – versuche es! Solche Bewegung zwischen Haben und Nichthaben, oder auch: solches symbolische Ineinanderwachsen von beiden kulminiert ersichtlich in der Hinwendung der Frau zu einem anderen Manne als dem, den sie eigentlich meint. Nicht um die brutale Einfachheit der Eifersucht handelt es sich dabei. Diese steht auf einem anderen Blatt, und wo sie etwa vorbehaltlos entfesselt werden soll, um das Gewinnen oder Behaltenwollen zur Leidenschaft zu steigern, da fügt sie sich. nicht mehr in die Form der Koketterie. Diese vielmehr muß den, dem sie gilt, das labile Spiel zwischen Ja und Nein fühlen lassen, das Sich-Versagen, das der Umweg des Sich-Gebens sein könnte, das Sich-Geben, hinter dem, als Hintergrund, als Möglichkeit, als Drohung das Sich-Zurücknehmen steht. An jeder definitiven Entscheidung endet die Koketterie, und die souveräne Höhe ihrer Kunst offenbart sich an der Nähe zu einem Definitivum, in die sie sich begibt, um dieses dennoch in jedem Augenblick von seinem Gegenteil balancieren zu lassen. Indem die Frau »mit« einem Manne kokettiert, um dadurch mit einem andern, auf den es in Wirklichkeit abgesehen ist, zu kokettieren, offenbart sich der eigentümliche Tiefsinn, der in der Doppelbedeutung des »mit« liegt: einerseits das Werkzeug, andrerseits den Partner einer Korrelation zu bezeichnen – als könne man einen Menschen überhaupt nicht zum bloßen Mittel machen, ohne daß dies zugleich Rückwirkung und Wechselbeziehung wäre.
Endlich zeigt eine Tatsache von zunächst physischem, dann aber auch seelischem Sinne vielleicht das unmittelbarste Zusammen des Ja und Nein, aus denen zu gleichen Rechten die Farbe der Koketterie gemischt wird: die Tatsache der »Halbverhülltheit«. Ich verstehe darunter alle die äußerlichen und innerlichen Fälle, in denen ein Sich-geben, Sich-darstellen derart von einem teilweisen Sich-Unsichtbarmachen oder Sich-Versagen unterbrochen wird, daß das Ganze um so eindringlicher in der Form der Phantasie vorgestellt wird und durch die Spannung zwischen dieser Form und der der unvollkommen offenbarten Wirklichkeit das Begehren nach deren Ganzheit um so bewußter und intensiver aufflammt. Es ist merkwürdig, wie die geschichtliche Entwicklung der Verhüllung des Körpers dieses Motiv des gleichzeitigen Darbietens und Versagens hervortreten läßt. Es gilt der heutigen Völkerkunde als sicher, daß die Bedeckung der Schamteile – wie die Bekleidung überhaupt – ursprünglich mit dem Schamgefühl nicht das Geringste zu tun hatte, vielmehr nur dem Schmuck-bedürfnis und der nahe damit verwandten Absicht dient, durch die Verhüllung einen sexuellen Reiz auszuüben: es kommt vor, daß bei nackt gehenden Völkern nur die Buhlerinnen sich bekleiden! Die Gürtel und Schürzchen, die die Funktion des Feigenblattes erfüllen, sind oft so minimal und oft so angebracht, daß Verhüllung als solche überhaupt gar nicht ihr Zweck sein kann; sie müssen einen andern haben. Und welches dieser ist, zeigt die andre Erscheinung: daß sie in außerordentlich vielen Fällen aufs grellste gefärbt und aufs auffallendste verziert sind. Ihr Zweck ist also ersichtlich, auf diese Teile aufmerksam zu machen. Diese Verhüllung ist also ursprünglich nur Schmuck, mit der Doppelfunktion jedes Schmuckes: zunächst die Augen auf sich zu ziehen, dem geschmückten Wesen zunächst nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu gewinnen, und dann, dieses Wesen als ein wert-und reizvolles, der Aufinerksamkeit auch vorzüglich wertes erscheinen zu lassen. Unvermeidlicherweise aber kann jener Schmuck , wie der des Körpers überhaupt, diese Funktion nur erfüllen, indem er zugleich verhüllt. Um dieser Koinzidenz willen ist mit der Primitivform der Bekleidung das Moment der Koketterie gegeben: das Versagen, das Sich-Entziehen ist hier mit dem Aufmerksam-Machen, Sich-Darbieten, in einen unteilbaren Akt verschmolzen; dadurch, daß man sich oder einen Teil seiner schmückt, verhüllt man das Geschmückte, dadurch daß man es verhüllt, macht man darauf und auf seine Reize aufmerksam. Es ist sozusagen eine optische Unvermeidlichkeit, die die Gleichzeitigkeit des Ja und des Nein, die Formel jeder Koketterie, sogleich der ersten Stufe in der Entwicklung der Kleidung angliedert….“
© WS 2018