Wolfgang Sofsky
Ilinx 2: Malcolm Lowry – Tequila
Ex-Konsul Geoffrey Firmin, der sich unter dem Vulkan aus der Welt trinkt und gelegentlich darüber sinniert, was schrecklicher sei, eine leeres Glas oder eine leere Flasche, Firmin trank Johnnie Walker häufig aus der Flasche, aber unter dem Popocatepetl trank er naturgemäß auch Tequila (umständehalber ohne Salz und Limette), falls die Cantina nicht gerade geschlossen war und obwohl im fortgeschrittenen Vorstellungszustand nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob sich inmitten der Leere der Becher nun gerade leert oder nicht.
Seniora Gregorio schlurfte wieder ins Hinterzimmer und ließ den Konsul allein. Ein paar Minuten saß er da, ohne seinen zweiten großen Tequila anzurühren. Er stellte sich vor, daß er ihn tränke, hatte aber nicht den Willen, die Hand auszustrecken und das Glas zu nehmen, als wäre es etwas lange und mühselig Ersehntes, das nun — ein plötzlich erreichbarer, überlaufender Becher — alle Bedeutung verloren hätte. Die Leere der Cantina und ein sonderbares Ticken in dieser Leere wie von irgendeinem Käfer begannen ihm auf die Nerven zu gehen; er sah nach der Uhr: erst siebzehn Minuten nach zwei. Daher kam also das Ticken. Wieder stellte er sich vor, daß er den Tequila tränke, wieder versagt sein Wille. Einmal öffnete sich die Pendeltür, jemand kam herein, sah sich rasch um, um sich zu überzeugen, ging hinaus: war es Hugh, Jacques? Wer es auch war, er schien abwechselnd die Gesichter von beiden gehabt zu haben. Noch jemand kam herein, und obwohl der Konsul im nächsten Augenblick das Gefühl hatte, es sei gar nicht geschehen, ging der Mann, sich verstohlen umsehend, direkt ins Hinterzimmer. Ein verhungerter Straßenköter, der so aussah, als hätte man ihm kürzlich das Fell abgezogen, hatte sich hinter dem letzten Mann hereingedrückt und blickte jetzt mit sanften Knopfaugen zu dem Konsul auf. Dann drückte er seinen armen, jämmerlichen Brustkasten mit den nackten, welken Zitzen an den Boden und begann vor ihm zu kuschen und zu scharren. Aha, der Einzug des Tierreiches! Vorhin waren es die Insekten gewesen; jetzt begannen sie wieder auf ihn einzudringen, diese Tiere, diese Leute ohne Ideen. „Dispense usted, por Dios“, flüsterte er dem Hund zu. Dann bückte er sich und fügte, um etwas Freundliches zu sagen, eine Wendung hinzu, die er in seiner Jugend oder Kindheit gelesen oder gehört hatte: „Denn Gott sieht, wie scheu und schön du in Wirklichkeit bist, und die Gedanken der Hoffnung, die dich umschweben wie kleine weiße Vögel –„
Der Konsul stand auf und deklamierte plötzlich vor dem Hund:
„Wahrlich ich sage dir, Pichicho, heute wirst du mit mir im —„ Aber der Hund hoppelte erschreckt auf drei Beinen davon und kroch unter der Tür hinaus.
Der Konsul trank seinen Tequila in einem Zug aus; er ging zur Theke…“
(Malcom Lowry, Unter dem Vulkan, Reinbek 1988, S. 277f.)
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