Wolfgang Sofsky
Lukrez: Verwerfliche Lebensgier
In Gesellschaften, in denen das Leben als der Güter höchstes und die individuelle Selbsterhaltung als höchstes Lebensprinzip gilt, fehlt das Verständnis für die heidnische Verachtung für die Mühen und Plagen des schieren Lebens. Sowohl die christliche Vorstellung von der Todlosigkeit der Person als auch die säkulare Anbetung der Arbeit oder das neurechtliche Supraprinzip der Lebenserhaltung, unter welchen Umständen auch immer, sind meilenweit entfernt von der Einsicht, daß es Lebensverhältnisse gibt, die nicht ertragen werden müssen, daß es dem einzelnen selbst obliegt zu entscheiden, ob er sich entwürdigender Unerträglichkeit entzieht. Obendrein hat der Abstand von animalischer Lebensgier den Nebeneffekt, von den Lasten der Todesangst zu entlasten, zumal das Körper- und Seelenende unausweichlich ist, wie schon Lucretius im dritten Buch über die Natur (1076-1093) wußte.
Endlich die Gier nach dem Leben! Wie maßlos beherrscht sie und zwingt uns,
Stets in Gefahren und Zweifeln mit Zittern und Zagen zu leben!
Sicher, ein Ende des Lebens erwartet uns Sterbliche alle,
Flucht vor dem Tod ist nicht möglich, es rettet uns nichts vor dem Sterben.
Außerdem drehn wir uns stets und verharren im selbigen Kreise;
Und kein neues Vergnügen ersprießt aus der Lebensverlängrung,
Sondern, so lange uns fehlt, was wir wünschen, erscheint uns just dieses
Besser als alles, und haben wir dies, dann wünschen wir andres.
Also lechzen wir stets, nie stillt sich der Durst nach dem Leben.
Auch welch‘ Los uns die Zukunft bringt, was der Zufall uns zuwirft,
Was uns erwartet am Schluß: dies alles muß zweifelhaft scheinen.
Mag man das Leben verlängern, vom Zeitraum unseres Todes
Rauben wir keine Sekunde. Wir können ja niemals bewirken,
Daß wir geringere Zeit in dem Reiche des Todes verweilen.
Könnten wir also das Leben selbst auf Jahrhunderte dehnen,
Ewig würde doch währen der Tod, und für jenen, der heute
Schied aus dem Tageslicht, wird das Nichtsein kürzer nicht dauern
Als für den, der schon Monde zuvor und Jahre verstorben.
© WS 2019