Wolfgang Sofsky
Pandora oder Über die Hoffnung
Pandora trug den irdenen Krug herbei und öffnete ihn. Er war das Geschenk der Götter an die Menschen, ein schön verzierter Pithos, überbracht von dem Mädchen, so schön und betörend wie die unsterbliche Göttin. Eine Kunstgestalt war sie, feingliedrig aus Erde und Wasser geformt von dem grobhändigen Hephaistos. Mit zahllosen Gaben wurde sie von den Göttern beschenkt. Neugier und Übermut spürte sie in sich, geschickt war sie mit den Fingern und hellhörig mit den Ohren. Aphrodite beschenkte sie mit Grazie, Liebreiz und verzehrender Sehnsucht; die Chariten legten ihr goldene Halsbänder um, die Horen bekränzten das Mädchen mit den Blumen des Frühlings; Athene schmückte sie mit Gürtel und Gewand und lehrte sie das Weben; Hermes verlieh ihr Stimme und Sprache, Lug und Trug, befreite sie von Scham und nannte sie Pandora, die Allbeschenkte und Allbeschenkende, zum Schaden der brotverzehrenden Menschen.Zu Epimetheus, dem Bruder des Prometheus, dem bestgehaßten Feind der Götter, führte er sie, als großherzige Gabe.
Kein Geschenk von den Göttern solle er annehmen, hatte Prometheus seinen Bruder gewarnt. Von Göttern sei nichts Gutes zu erwarten. Zurückschicken solle er die Gabe, damit den Sterblichen kein Übel erwachse. Doch der Bruder hatte die Warnung vergessen. Kaum war der Krug geöffnet, da flogen all die beschwingten Unwesen heraus. Seit dieser Stunde schweifen sie umher und bringen den Menschen Sorge und Trauer, Übel und Unheil. Klagen und Wehen, Alter und Irrsinn, Laster und Leidenschaften sind seitdem in der Welt. Krankheiten besuchen die Menschen tags und nachts, voller Unbilden ist das Meer, das Land und die Luft. Der Tod hat das Szepter übernommen, die Kluft zwischen den Menschen und den unsterblichen Göttern ist unüberwindbar.
Nur ein Verhängnis war noch nicht aus dem Krug geschlüpft, sondern verbarg sich unter dem Rande des Kruges. Auf Geheiß des Göttervaters Zeus hatte Pandora rasch den Deckel zugeschlagen, und so blieb dieses letzte Übel verschlossen. Es war die Hoffnung. Wollte Zeus die Menschen vor diesem Unheil bewahren oder wollte er ihnen nur vormachen, in dem Krug sei ein Glückselixier verborgen? Wollte er, daß sich die Menschen das letzte Unheil selbst bereiten? Manche sagen, Pandora habe, neugierig wie sie war, später erneut den Deckel gehoben, so daß auch Elpis, die Hoffnung, entweichen konnte. Andere sagen, im Krug sei die Hoffnung sicher verwahrt, zu stetigem Gebrauch. Nicht zum Trost blieb die Hoffnung im Gefäß, sondern zum ewigen Vorrat neuen Unheils. Wann immer Mut, Verstand und Zuversicht die Menschen verlassen, flüchten sie sich in die Hoffnung und harren aus. Hoffnung ist die höchste der Torheiten, das übelste aller Übel, denn sie hilft die Qualen zu verlängern. Todkrank schon hofft der Moribundus auf wundersame Genesung; von allen verlassen, hofft der Verlorene auf Zuspruch; jedes Handelns entschlagen, hofft der Ohnmächtige auf Rettung, Hilfe, Erlösung. Hoffnung verlängert das Leid, sie raubt dem Menschen die Fähigkeit, der Qual ein Ende zu setzen. In Hoffnung verhüllt, folgt er der Zeit, die ihn weiter ins Unglück treibt. Im Krug ist sie verwahrt, damit jeder sie ergreifen und sich mit Blindheit schlagen kann.
© WS 2014