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Wolfgang Sofsky
Seelenverkäufer
Von einer führenden deutschen Gesinnungspolitikerin, die vehement den Menschentausch zwischen der Europäischen Union, Griechenland und der Türkei kritisiert, ist folgender Satz überliefert: „Die EU insgesamt verkauft hier ihre Seele und verrät ihre Werte.“ (Interview mit der Westdeutschen Zeitung vom 3.4.16).
Diese Bemerkung ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Danach hat die Europäische Union nicht nur Werte, sondern auch eine Seele. Wer in der Europäischen Union „insgesamt“ diese Seele hat, ist eine offene Frage: Ist es die Seele von Herrn Juncker, von Frau Merkel, von der besagten Politikerin oder ist es die Seele des Hausmeisters des Gebäudes, in dem die Büros der Europäischen Kommission untergebracht sind? Ist es die ideelle Gesamtseele aller EU-Angestellten, aller EU-Parlamentarier oder aller Bewohner der EU-Länder? Oder ist es die Vorstellung besagter Politikerin, die sie sich von einer ideellen Gesamtseele zu machen wünscht? Naturgemäß ist allein letzteres der Fall. Weder Firmen noch Nationen noch Fußballmannschaften oder Parteien haben gemeinhin eine Seele, sondern allenfalls einzelne Personen, abgesehen von jenen Subjekten, die ihr Leben verbringen, ohne eine Seele zu haben. Der entrüstete Spruch der deutschen Gesinnungspolitkerin ist mithin gegenstandslos. Da die EU keine Seele hat, kann sie eben jene auch nicht verkaufen. Und da die EU auch keine Werte hat, da weder Korporationen noch Staaten oder Staatenbünde irgendwelche Werte haben können, sondern nur Personen, kann die EU diese Werte auch nicht verraten. Man kann darüber streiten, ob eine Institution einen Wert hat, ob sie also nützlich oder unnütz ist, aber man kann schwerlich sagen, die Institution habe Werte, die sie verraten kann. Mit anderen Worten: Gesinnungspolitik verwechselt Einrichtungen, Institutionen mit Personen und schreibt ihnen ein Innenleben zu, wie es nur Personen haben können. Damit verfehlt die Gesinnungspolitik nicht nur den Gegenstand des Politischen, sondern erweist sich im tiefsten Herzensgrunde als prinzipiell vorpolitisch.
© WS 2016