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Wolfgang Sofsky
Pflichten und Präferenzen
In der Zuwanderungsdebatte wird erregt über die Frage gesprochen, ob „wir es schaffen“ oder ob „wir es nicht schaffen“. Es wird also über Fähigkeiten diskutiert. Kaum ein Debattenteilnehmer riskiert die Behauptung: Ob wir es schaffen oder nicht, wir wollen es nicht. Er stünde sofort als Unmensch, Menschenfeind, Fremdenfeind, Islamhasser, Pegidist, Nazi oder sonstwas da. In Wahrheit kaschiert die Debatte über wirkliche und eingebildete Fähigkeiten eine Debatte über die Präferenzen. Wünscht man Zuwanderung oder nicht, und in welchem Umfang wünscht man Zuwanderung, falls man sie wünscht? Zieht man es vor, unter sich zu bleiben; zieht man es vor, nur wenigen Hilfsbedürftigen zu helfen; zieht man es vor, allen Hilfsbedürftigen zu helfen, oder zieht man es vor, alle Zuwanderer aufzunehmen?
Von einer Debatte über die Präferenzen wiederum ist zu unterscheiden eine Debatte über die gebotenen Pflichten: Zu welcher Hilfsleistung ist man verpflichtet, zu welcher nicht? In welchem Verhältnis stehen mögliche Hilfspflichten gegenüber anderen Pflichten? Welche Maximen verfolgt jede Partei, welche Normen können angewendet werden, um – neben anderen Kriterien – Präferenzen zu beurteilen? Und schließlich ist zu erörtern, wie realistisch Präferenzen und Pflichten sind. Erst jetzt kommen mögliche Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten wieder ins Spiel. Wer keine Fremden wünscht und auch keine Hilfsverpflichtung anerkennt, braucht über Fähigkeiten nicht zu diskutieren. Wer umgekehrt Zuwanderung für ein unabwendbares historisch-epochales Schicksal hält, auch der muß über Präferenzen, Pflichten oder Fähigkeiten nicht debattieren. Er hat sich von vornherein jeder eigenen Handlungsmöglichkeit und -kompetenz entschlagen. Wer Zuwanderung aufgrund seines privaten Maximenkatalogs von vornherein für geboten hält, auch der braucht über Präferenzen und Realitäten kaum mehr zu reden, sondern appelliert sogleich an vermeintliche Fähigkeiten. Dazwischen liegt der Diskursraum mit konfligierenden Präferenzen, Maximen und Realitätseinschätzungen. Die vorschnelle Debatte über die Fähigkeiten jedoch verkürzt und verkleistert den Konflikt. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß, so scheint es, unter dem Himmel deutscher Werte über Präferenzen und Pflichten gar nicht ernsthaft diskutiert werden kann.
© WS 2016