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Wolfgang Sofsky
Raum, Architektur, Phantasie
Der Begriff der „phantastischen Architektur“ ist nicht sonderlich trennscharf. Nicht jedes unkonventionelle, originelle, eigenwillige Bauwerk rechnet hierzu, auch wenn beim Entwurf die Operationen der Phantasie eine gewisse Rolle gespielt haben. In einem weiten Sinne haben viele Entwürfe und Projekte mit Phantasie im allerweitesten Sinne zu tun, mit der Vorstellung von Nichtfaktischem, sonst wären es keine Entwürfe. Aber nicht jede Vorstellung ist das Ergebnis von Phantasie. Jede Architekturidee, die tatsächlich verwirklicht wurde, unterliegt den Gesetzen der Gravitation, Statik und Konstruktion, auch wenn diese Regeln, wie z.B. bei Peter Cooks Kunsthaus in Graz in ungewohnter Manier angewandt wurden.
Allzu eng ist dagegen der Begriff der „phantastischen Architektur“, wenn er lediglich auf Bauwerke zutreffen soll, die, wie man zu sagen pflegt, einen grundsätzlichen Bruch mit der Ordnung der Realität darstellen. Visionäre, aber realisierbare Konzepte fallen dann nicht darunter, ebensowenig extravagante Miniaturbauwerke wie die follies in der Gartenbaukunst. Weder ungewöhnliche Geometrie, exotische Materialien oder Motive, unübliche Formensprache, Irreführung der räumlichen Wahrnehmung, scheinbare Mißachtung konstruktiver Gewohnheiten sind in diesem engeren Sinne „phantastisch“, solange die natürlich-technischen Grundbedingungen gewahrt bleiben. Dieser enge Begriff der ph.Arch. führt jedoch dazu, daß zuletzt nur literarische, gemalte, gezeichnete oder gefilmte Fiktionen als „phantastische Architektur“ gelten können. Phantastische Architektur ist danach stets irreal.
Zum Studium der Phantasie und ihrer Operationen ist diese begriffliche Engführung jedoch wenig zweckmäßig. Die Verfahren der Raumphantasie lassen sich nicht nur an irrealen Räumen studieren, also an objektiv unmöglicher Architektur, zumal technische Fortschritte dazu geführt haben, daß so manche Architekturphantasie der Vergangenheit mittlerweile in die Welt gesetzt werden konnte. Kurzum: Architektur bietet den paradigmatischen Fall für das Studium der Raumphantasie. Und „phantastische Architektur“ im engeren Sinne bietet lediglich – so die Vermutung – einen Bereich für die Eigenheiten der Raumphantasie. Die Phantasie kann, muß aber nicht die innere und äußere Raumordnung in Unordnung bringen. Der „Bruch mit der Realität“ ist nur ein Spezialfall der Phantasietätigkeit. Die Phantasie kann sich etwas vorstellen und die Grenze der Erfahrung überschreiten, ohne mit den Gesetzen der Statik zu brechen.
Ohnehin verschenkt die Verschiebung der Raumphantasie ins Bildhafte und Literarische zwei wesentliche Gesichtspunkte. Der Sinn fürs Phantastische in der Architektur setzt gerade die Mannigfaltigkeit der Erfahrung von realer Architektur voraus. Man kann keine Grenze überschreiten, wenn man die Grenze nicht kennt. Zudem interessiert an der Architektur stets auch die Konstruktion, die Proportion der Räume, ihre Funktion. All dies bleibt auf der Strecke, wenn es nur mehr um Farbe und Licht, Sinn und Unsinn, Fremdartigkeit oder Bekanntheit gehen soll. Ruinen, Labyrinthe, magische Pforten, organisches Steinwerk, symbolische Aufladung etc., all dies ist wichtig, aber keine Raumphantasie als solche. Was also macht die Phantasie mit dem Raum, wenn sie Bauwerke ersinnt und/oder errichtet?
© WS 2019