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Wolfgang Sofsky
Mausefallen des Symbolismus
Der rechte Flügel des berühmten Mérode-Altars, der im New Yorker Metropolitan Museum of Arts zu besichtigen ist, hat vor rund 70 Jahren eine kunsthistorische Grundsatzdebatte ausgelöst. Studien von Meyer Schapiro (1945) und Erwin Panofsky legten die Vermutung nahe, daß kein Bildding ohne tiefere Bedeutung sei. So sei die Mausefalle ein Sinnbild für die Falle, die dem Teufel durch das Kreuz des Herrn gestellt sei, indes der Köder im Tod des Gottessohns liege. Diese Idee geht zurück auf eine Bemerkung des Kirchenvaters Augustinus, taucht im mittelalterlichen Schrifttum hier und da auf und gab gelehrten Bilddeutern des 20. Jahrhunderts Anlaß, gemalte Mausefallen für symbolische Teufelsfallen zu halten.
Bekanntlich kann jedes Objekt als Zeichen benutzt oder gedeutet werden, ja, sogar als arbiträres Symbol für einen Sachverhalt, mit dem das Zeichen nicht die geringste Ähnlichkeit hat. Auch Bilder von Objekten kann man als Zeichen der abgebildeten Objekte verstehen. Doch daraus folgt keineswegs, daß jedes Objekt ein Zeichen oder Symbol ist. Das Bild einer Mausefalle zeigt eine Mausefalle. Aber zeigt die Mausefalle auf dem Bild noch etwas anderes? Zeigt sie, daß der gekreuzigte Christus eine Mausefalle für den Teufel ist, oder zeigt sie nur, daß man in eine Falle tappt, wenn man Mausefallen auf der Werkbank oder – oben – am geöffneten Verkaufsfenster für Symbole hält? Der Maler, pfiffig wie er war, dürfte kein Semiotiker oder Theologe gewesen sein, und schon gar kein Gelehrter der Ikonen. Ohnehin verbarg er seine Identität unter dem Namen „Robert Campin“ oder „Meister von Flémalle“. Womöglich wollte er lediglich den, damals selten dargestellten Nährvater, Zimmermann und nebenberuflichen Schreinermeister Joseph beim Bohren dicker Bretter zeigen, aus denen eben auch Mausefallen gefertigt werden können, in denen sich allerlei Mäuse verfangen, wenn Kunden solche Fallen kaufen oder wenn Auftraggeber Maler mit Gemälden beauftragen, auf denen neben Mausefallen noch manch anderes zu sehen ist.
© W.Sofsky 2015