Wolfgang Sofsky
Robert Schumann: Symphonie Nr. 3 oder Musik ohne Tonmalerei

Schumanns 3. Symphonie in Es-Dur op.97 gehört zu den populärsten Werken des Komponisten, scheint sie doch nur frohe Stimmung zu verströmen und die deutsche Flußromantik in gar muntere Töne zu fassen. So volkstümlich war diese Musik einstmals, daß eine lokale Sendeanstalt ein Motiv aus dem ersten Satz zeitweise als Erkennungsmelodie einer Fernsehsendung verwandte. Man nennt sie die „Rheinische“ und glaubt das Stück ähnlich verstehen zu können wie Smetanas „Moldau“, als heiter musikalische Reise auf dem Flußdampfer. Im vierten Satz indes wird es, nachdem die Posaunen drei Sätze lang geschwiegen haben, unversehens feierlich. „Im Charakter der Begleitung einer feierlichen Zeremonie“ wollte Schumann diesen Satz ursprünglich überschreiben, zuletzt beließ er es bei dem schlichten Hinweis „feierlich“. Und da es am Rhein am feierlichsten zugeht, wenn Bischöfe oder Kardinäle in einem größeren Dom ihr Amt antreten, kam man auf die Idee, die Weihe von Johannes von Geissel zum Kardinal im noch unvollendeten Kölner Dom als Anlaß oder Inhalt der Musik zu vermuten, ein Ereignis, dem der Komponist jedoch gar nicht beiwohnen konnte, da er an diesem Tag im November 1850 in Düsseldorf mit Fieber im Bett gelegen haben soll.
Ohnehin hatte Schumann, dessen 204. Geburtstag sich demnächst jährt und der sich von der Bauruine des Doms durchaus beeindruckt gezeigt hatte, in Fragen musikalischer Beschreibung, Darstellung oder gar Programme eine entschiedene poetische Meinung. Daß zufällige Eindrücke von außen, Erlebnisse, Ideen, Klänge die Tonarbeit auslösen oder auch begleiten können, ist eine Banalität. Aber es verhält sich hier wie bei anderen Werken, seien es Bilder, Gedichte, Erzählungen oder pilosophische Texte: die Genese sagt nichts über Geltung, Wert und Wahrheit. „Auf welche Weise Kompositionen entstehen, macht nicht viel zur Sache. Meist wissen das die Komponisten selbst nicht. Oft leitet ein äußeres Bild weiter, oft ruft eine Tonfolge wieder jenes hervor. Die Hauptsache bleibt, daß gute Musik herauskommt, die immer auch rein als Musik befriedigt.“
Musikstücken Titel zu verleihen, wie Berlioz in seiner „Phantastischen Symphonie“ oder Liszt und Strauss in ihren symphonischen Dichtungen, also einen Wegweiser in die Wirklichkeit aufzustellen, hat „immer etwas Unwürdiges und Charlatanmäßiges. Schon bei der Pastorialsinfonie (Beethovens Sechster, WS) beleidigt es den Deutschen (nicht nur ihn, WS), daß ihm Beethoven nicht zutraute, ihren Charakter ohne sein Zutun zu erraten.“ Musik ist nicht dazu da, einen Sachverhalt zu beschreiben oder darzustellen, sie ist auch keine Deskription von Gefühlen oder Empfindungen, weder einzelnen noch allgemeinen, sie dient niemandem und übersetzt auch nichts, sondern klingt für sich selbst. Sie folgt den Gesetzen, die nur ihr selbst eigen sind, aber sie kann – sofern sie Bedeutung hat – den Hörer in Gefilde der Phantasie lenken, „wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern können.“ Die „Frühlingssymphonie“ (Schumanns Erste) entführt nicht auf eine bunte Wiese und erinnert auch nicht an entsprechende Triebe und Begierden. Nirgends fliegt ein Schmetterling auf und nirgends jubiliert ein Rotkehlchen auf dem Ast.
Im vierten Satz der „Rheinischen“ wiederum schreitet kein Zug von Würdenträgern durch den Mittelgang der Kathedrale zum Altar, obwohl eine ebenso naive wie überflüssige Bebilderung der Musik einmal das Kameraauge an den Glasmalereien entlanggleiten ließ, durch die das heilige Licht in den monumentalen Raum fiel. „Schwebt dem Musiker ein Bild , eine Idee vor, so wird er sich doch nur erst dann glücklich in seiner Arbeit fühlen, wenn sie ihm in schönen Melodien entgegenströmt,..“. Tonfolgen, Akkorde, Melodien sind keine Nachahmungen oder gar Beschreibungen von Sachverhalten so wie wahre Aussagen die Welt beschreiben, aber sie sind auch keine lyrischen Ausrufe, mit denen der Komponist seine Innenwelt nach außen kehrte. Wahrhaftigkeit ist kein Kriterium für die Qualität eines Stücks, denn nur Banausen, die auf Biographien fixiert sind, verwechseln Musik mit emotionalen Geständnissen oder Bekenntnissen. Musik spricht nicht durch Töne, sie „spricht“ nur Töne. Deshalb ist es auch irrig, diesen vierten Satz als Indiz dafür zu nehmen, daß sich Schumann, der Protestant, nach der Übersiedlung ins Rheinland, der katholischen Welt angenähert hätte.
Der ganze Satz erwächst aus einem Thema mit einer Folge von sechs Quarten, das stets wiederholt wird, in Engführungen verflochten, rhythmisch verkürzt oder zwei- oder dreifach verlängert wird. Es steht in es-moll, was aus dem Notenbild nicht sofort ersichtlich ist, da Schumann nur drei Vorzeichen gesetzt hat. Die Architektur des polyphonen Satzes erinnert stellenweise an die monumentalen Klangberge einer Bruckner-Symphonie, an einen Choral oder eine Fuge, wobei Schumann vom 4/4 zum bewegteren 3/2 und schließlich in den 4/2 Takt wechselt. Eine genauere Analyse könnte zeigen, mit welchen Techniken des Kontrapunktes Schumann eine ästhetische Wirkung der Erhabenheit erzeugt, die jedoch nichts von der Düsternis eines geschlossenen Raums hat. Der Satz beschreibt nicht durch Quartenschichtungen das mystische Dunkel eines Kathedralbaus und auch nicht die Empfindungen, die sich einstellen, wenn man einen solchen Bau betritt. Deshalb ist der heitere fünfte Satz, das Finale, auch keine Zeit der Erleichterung, kein Austritt aus der Finsternis ins glühende Sonnenlicht der nahen Rheinwiesen, kein Weg ins Freie. „Lebhaft“ hat der Komponist notiert. Dem langsam Feierlichen folgt nach dem Gesetz des ästhetischen Kontrastes das lebendig Beschwingte, in freizügig gefaßter Sonatenform bis zur finalen Stretta.
Es spielt das Symphonieorchester des NDR unter Christoph Eschenbach zur Eröffnung des Schleswig-Holstein-Musikfestivals am 11.7.2010 in der Musikhalle Lübeck (3sat-Aufzeichnung, Dauer 12 Minuten):
http://www.myvideo.de/watch/7813371/Schumann_Sinfonie_Nr_3_4_5_Satz
© Wolfgang Sofsky 2014