Paul Valéry: Überdruß und Wahrheit

Paul Valéry, selbst vom taedium vitae durchaus geplagt, läßt Sokrates, dessen Freund Phaidros sowie den Arzt Eryximachos nicht nur die leichten Bewegungskünste der athenischen Tänzerinnen bewundern, sondern im Tanz der Körper einen vorläufigen Ausweg aus jenem chronischen Seelenzustand erkennen, den Sokrates den „Lebensüberdruß“ nennt. Er stellt sich ein, wenn alle Täuschungen und Selbsttäuschungen aufgehoben sind und die Tatsachen unverhüllt zutage treten, wenn der eisklare Blick erkennt, was der Fall ist. Es ist die Wahrheit, die den Weltekel hervorbringt. Sobald man die Dinge sieht, wie sie sind, bleibt nichts als Überdruß, jenes Gift, das der ganzen Natur Widerstand leistet.
SOKRATES … Der mit Namen: Lebensüberdruß! — Ich meine, verstehe mich gut, nicht die vorübergehende Unlust, nicht die Unlust aus Müdigkeit oder den Überdruß, dessen Keim sichtbar ist, oder jenen anderen, dessen Grenzen man kennt, sondern den vollkommenen Überdruß, diesen reinen Überdruß, den Überdruß, der nicht aus einem Unfall oder einer Hinfälligkeit stammt und der sich denjenigen Bedingungen anpaßt, die, dem Augenschein nach, die glücklichsten sind, den Überdruß mit einem Wort, dessen Stoff das Leben selbst abgibt, und dessen Nebenursache in der Hellsichtigkeit des Lebenden beruht. Dieser absolute Überdruß ist an sich nichts als das bloße Leben, wenn es sich deutlich ins Auge faßt.
ERYXIMACHOS Es ist wirklich wahr: wenn unsere Seele sich reinigt von aller Falschheit, wenn sie verzichtet auf jede betrügerische Hinzufügung zu dem, was ist, so erscheint unsere Existenz auf der Stelle bedroht durch diese kalte, peinlich vernünftige und gemessene Anschauung des menschlichen Lebens, so, wie es ist.
PHAIDROS Das Leben wird schwarz über der Berührung mit der Wahrheit, so, wie der zweifelhafte Pilz, wenn er, zerdrückt, mit der Luft in Berührung kommt.
SOKRATES Eryximachos, ich habe dich gefragt, ob es ein Heilmittel gibt?
ERYXIMACHOS Warum ein so gründliches Übel heilen? Nichts ohne Zweifel, nichts ist an sich krankhafter, nichts der Natur feindlicher, als die Dinge zu sehen, wie sie sind. Eine kalte und vollkommene Klarheit ist ein Gift, das sich unmöglich bekämpfen läßt. Das Wirkliche, in reinem Zustande, bringt das Herz augenblicklich zum Stehen … Ein Tropfen genügt von dieser eisigen Lymphe, um in der Seele alle Federn und Schwingungen des Begehrens zu entspannen, um allen Hoffnungen ein Ende zu machen, um allen Göttern in unserem Blut den Untergang zu bereiten. Die Tugenden und die edelsten Färbungen verblassen davon und verzehren sich nach und nach. Die Vergangenheit — ein wenig Asche, die Zukunft — ein kleiner Eiszapfen: darauf kommt alles hinaus. Die Seele erscheint sich selbst als eine leere und ermeßliche Form. — In dieser Weise schießen die Dinge an und für sich zusammen, begrenzen einander gegenseitig und bilden so die strengste und tödlichste Kette … O Sokrates, das Weltall hält es nicht einen Augenblick aus, nichts zu sein, als was es ist. Es ist seltsam zu denken, daß das Ganze sich selbst nicht zu genügen vermag! … Sein Entsetzen zu sein, was es ist, hat es also genötigt, sich tausend Masken zu schaffen oder abzumalen; das ist der einzige Grund für das Dasein der Sterblichen. Wozu sind die Sterblichen da? — Ihre Sache ist, zu erkennen. Erkennen? Was heißt erkennen? — Ganz sicher, nicht sein, was man ist. — Und so führen die Menschen in einem Rausch des Denkens in die Natur das Prinzip ihrer grenzenlosen Irrtümer ein und diese Myriade von Wundern! …
Die Mißverständnisse, die Scheinbarkeiten, die Spiele der Strahlenbrechung des Geistes vertiefen und beleben den erbärmlichen Teig der Welt … Die Idee mischt in das, was ist, die Hefe dessen, was nicht ist … Aber zuweilen gibt sich die Wahrheit zu erkennen und fällt heraus aus dem harmonischen Zusammenhang der Phantastereien und der Irrtümer … Alles droht auf der Stelle zugrund zu gehen, und Sokrates in Person kommt mich um ein Heilmittel bitten für diesen verzweifelten Fall von Hellsichtigkeit und Überdruß! …
SOKRATES Gut, Eryximachos, da es kein Mittel gibt, kannst du mir wenigstens sagen, welcher Zustand das Gegenteil wäre von diesem Zustande des reinen Ekels, der mörderischen Helligkeit, der unerbittlichen Klarheit?
ERYXIMACHOS Ich sehe zunächst alle Räusche, die nicht melancholischer Art sind.
SOKRATES Und dann?
ERYXIMACHOS Die Trunkenheit und die Reihe der Einbildungen, die aus Dünsten stammen, die zu Kopf steigen….
(Paul Valéry, Die Seele und der Tanz, Ü: R.M.Rilke)