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Wolfgang Sofsky
Hermann Broch: Im Schattentraum zeitlosen Übels
Daß der Schatten auch eine sozialstrukturelle Bedeutung hat, weiß man nicht erst seit Brechts Dreigroschenoper. Die im Dunkel sieht man bekanntlich nicht, sie fallen aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung heraus. Hermann Broch hat das Schattendasein im Elend in einer grandiosen Passage beschrieben. Der todkranke Vergil wird in einer Sänfte durch eine Elendsgasse in Brundisium getragen, während Kaiser Augustus nur wenige Meter entfernt vom Hafen zum Palast getragen wird. Verwünschungen, Verhöhnungen schlagen dem Dichter entgegen, überall wimmelt es in diesem Schattentraum zeitlosen Übels von Verzweiflung, Verderbnis, Verkerkerung, Verwesung. Aus der Sicht des Todkranken wird diese Szene geschildert, wie ohnehin der gesamte Roman nichts anderes ist als eine Art „innerer Monolog“ des Sterbenden.
„Es gab aber eigentlich wenig Anlaß zur Heiterkeit; am allerwenigsten wurde ein solcher von diesem Gassenschlunde geboten. Dunkel lag der flachstufige Stiegenweg da, bevölkert mit allerhand Schattenhaftem, vor allem mit Rudeln von Kindern, welche trotz der vorgerückten Stunde treppauf und treppab tollten, schattenhaft zweifüßig, und zu denen sich, bei näherer Sicht, dann auch noch Vierfüßiges gesellte, da überall längs der Mauern, mehr oder minder kurz angeseilt, Ziegen angepflockt waren; schwarz blickten die glaslosen und zumeist auch lädenlosen Fenster in den Schlund, schwarz die kellerigen, dunkelhöhligen Verkaufsgewölbe, aus denen allerhand billiges Gefeilsche herausschnatterte, das Gefeilsche der Armut, das Gefeilsche für die Bedürfnisse der nächsten Stunden, kaum des nächsten Tages, während daneben die klopfende, schnarrende, klempernde, kleinkümmerliche Handwerkerarbeit, von Schatten bedient, für Schatten bestimmt, dünn lärmend vonstatten ging und augenscheinlich zu ihrer Ausführung überhaupt keines Lichtes mehr benötigte, denn selbst wo der Schein einer Ölfunzel, eines Kerzenstumpens sich hervorwagte, blieben die Menschen im Schatten verkrochen. Alltagsleben im elendsten Elendsgange, unabhängig von jedem äußeren Ereignis vollzog sich hier, vollzog sich schier zeitlos, als wäre das Kaiserfest meilenweit von dieser Gasse enfernt, als wüßten ihre Bewohner nichts von dem, was in anderen Stadtteilen sich zutrug, und so bedeutete der auftauchende Sänftenzug nichts Staunenerregendes, wohl aber unliebsamste oder richtiger feindseligste Störung. Es begann koboldhaft, nämlich mit den Kindern, ja, sogar mit den Ziegen, da sowohl die einen wie die anderen den Trägern zwischen die Beine gerieten und nicht auswichen, meckernd die Vierfüßler, kreischend die kleinen Zweifüßler, die aus allen Schattenwinkeln hervorbrachen, um sich dann wieder darein zu verstecken; es begann damit, daß sie dem jungen Führer, freilich erfolglos vor seiner wilden Wehrhaftigkeit, die Fackel entreißen wollten, indes, dies wäre nicht das Ärgste gewesen, und wenn auch langsam, man kam trotzdem vorwärts -Stufe um Stufe ging es die Elendsgasse hinan -, nein, nicht diese Behelligungen waren arg, sondern die Weiber waren es, sie waren das Ärgste, sie, diese aus den Fenstern herausgelehnten Weiber, brustzerquetscht auf den Brüstungen, herabbaumelnd schlangengleich ihre nackten Arme mit den züngelnden Händen daran, und waren es auch nur irr keifende Schimpfworte, in die ihr Geschwätz umkippte, sowie sie des Zuges ansichtig wurden, es war zugleich ein keifendes Irresein, groß wie jedes Irresein, übersteigert zur Anklage, übersteigert zur Wahrheit, da es Schimpf war. Und hier nun, wo Haus um Haus bestialischen Fäkaliengestank aus dem geöffneten Tormaul entließ, hier in diesem verwitterten Wohnkanal, durch den er auf hocherhobener Sänfte getragen wurde, so daß er in die ärmlichen Stuben blicken konnte, blicken mußte, getroffen von den wütend und sinnlos ihm ins Gesicht geschleuderten Verwünschungen der Weiber, getroffen vom Gegreine der auf Fetzen und Lumpen gebetteten, nirgends fehlenden kränklichen Säuglinge, getroffen vom Qualm der an den rissigen Wänden befestigten Kienspäne, getroffen von der dunstigen Abgestandenheit der Kochstellen und ihrer verschmorten, altverschmierten Eisenpfannen, getroffen von dem Grauensbild der da in den schwarzen Lochbehausungen allenthalben herumhockenden, nahezu unbekleideten, mummelnden Greise, hier begann Verzweiflung ihn zu überkommen, und hier zwischen den Höhlen des Ungeziefers, hier vor dieser äußersten Verkommenheit und elendigsten Verwesung, hier vor dieser tiefst irdischen Verkerkerung, vor dieser Stelle bösartig kreißender Geburt und bösartig krepierenden Todes,.des Lebens Ein- und Ausgang verwoben zu engster Verschwisterung, finstere Ahnun g, das eine wie das andere, namenlos das eine wie das andere im Schattentraum zeitlosen Übels, hier in dieser namenlosesten Nächtlichkeit und Unzucht, hier mußte er zum erstenmal das Gesicht verhüllen, mußte es tun unter dem keifenden Jubelgelächter der Weiber, mußte es zur gewollten Blindheit tun, während er hinangetragen wurde, Stufe um Stufe, über die Treppe der Elendsgasse.“