Wolfgang Sofsky
Isaac Stern: Rondo Capriccioso

Am 21.7.2015 wäre Isaac Stern 95 Jahre alt geworden. Stern wurde 1920 in der Westukraine geboren; als er vierzehn Monate alt war, floh die Familie nach San Francisco. Sein Debut gab er im Alter von sechzehn. Mit dem San Francisco Symphony Orchestra unter Pierre Monteux spielte er mit seinem Lehrer Naoum Blinder das Bachsche Doppelkonzert, einige Monate darauf folgte Tschaikowskijs Violinkonzert mit den Los Angeles Philharmonikern unter Otto Klemperer. Stern war weder ein Wunderkind noch ein Virtuose in der Paganini-Manier. In seiner Autobiographie aus dem Jahr 2000 nannte er Nathan Milstein und Arthur Grumiaux als seine Vorbilder. Sein Ton war reichhaltig, warm, leidenschaftlich, makellos, nicht auf Effekt getrimmt. Seine Diskographie weist neben den großen Violinkonzerten, einschließlich denjenigen von Bartok, Berg und Barber, Hindemith, Copland und Penderecki, auch zahlreiche Sonaten und Klaviertrios auf, die er zusammen mit Eugene Istomin und Leonard Rose aufgenommen hat. Kammermusik war für den Solisten eine Passion und machte einen beträchtlichen Teil seines Repertoires aus. Stern spielte u.a. mit Benny Goodman und seinem Sextett, mit J.P.Rampal, D.Barenboim, Peter Serkin, Y.Bronfman, W.Kempff, D.Oistrach, Midori, YoYo Ma, P. Zukerman, I.Perlman und Pablo Casals.
Die Rettung der baufälligen Carnegie-Hall geht auf Sterns Initiative zurück. Er soll daselbst über 200 Mal aufgetreten sein. Doch auch Filme zeigten seine famose Spielkunst. 1946 spielte er den Soundtrack von “Humoresque,“ und als John Garfield auftrat, waren es Sterns Hände, die auf der Leinwand zu sehen waren. In „Tonight We Sing“ (1953) spielte er den belgischen Virtuosen Eugène Ysaye. Einige Dokumentarfilme zeichneten seine Arbeit auf, darunter “From Mao to Mozart: Isaac Stern in China,“ der seine Konzert- und Lehrreise 1979 in China festhielt und 1981 den Academy Award erhielt.
Stern war ein rastloser Musiker. Er konnte in einem Jahr bis zu 200 Konzerte geben. Sein Impresario Sol Hurok sagte über ihn 1959: “Ich sagte ihm: Je weniger Du spielst, desto länger wirst Du spielen. Es fruchtete nichts. Wenn er nicht Geige spielt, telefoniert er. Ich sollte das Telephon abschaffen. Es würde ihm zehn Jahre Lebenszeit einbringen.“ Isaac Stern sollte seinen Agenten um 27 Jahre überleben.
Stern konzertierte weltweit, in China, Südamerika, in der Sowjetunion 1951 als erster US-Amerikaner, in Europa, nicht jedoch in Deutschland. Als er 1999 einen neuntägigen Meisterkurs in Köln gab, trat er selbst nicht öffentlich auf: “With my visit, I forgive nothing,“ sagte er, „but it isn’t very human not to give people a chance to change.“ 1967 boykottierte er die Sowjetunion wegen der Inhaftierung von Künstlern. Einem Festival in Athen blieb er fern aus Protest gegen die griechische Militärjunta.
Israel fühlte sich Stern besonders verbunden. Sein erstes Gastspiel gab er bereits 1949. Die Aufführung des Mendelssohn-Konzerts mit L.Bernstein auf dem Skopusberg kurz nach dem Sechstagekrieg ist in dem Film „Journey to Jerusalem“ dokumentiert. 1973 sagte er wegen des Yom Kippur Krieges diverse Engagements ab, flog nach Israel, spielte vor den Truppen im Negev oder in den Hospitälern an den Betten verwundeter Soldaten. Als die Unesco 1974 ihre Kulturprogramme für Israel strich, organisierte Stern einen Musikerboykott für Veranstaltungen des Unesco. Während des ersten Irakkrieges 1991, als irakische Scud-Raketen in Israel einschlugen, spielte er im Theater von Jerusalem. Als die Sirenen heulten und das Orchester vom Podium eilte, geriet das Publikum in Unruhe. Stern lief auf die Bühne und spielte eine Sarabande von Bach. Die Zuhörer, die sich die Gasmasken übergestreift hatten, beruhigten sich und hörten ihm zu.
Zu Sterns unermeßlichem Repertoire gehörte auch eine besondere musikalische Laune, das „Rondo Capriccioso“ von Camille Saint-Saens. Die Aufnahme ist zwar betagt, doch gibt sie nicht nur einen Eindruck von Sterns Kunst, sondern auch von jener freien Spielfreude, die dort beginnt, wo sich die Meisterschaft von selbst zu verstehen scheint: https://www.youtube.com/watch?v=XD059jkt6bs
© W.Sofsky 2015