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Ukraine: Propaganda und Social Fiction

Im Sommer 1933 inszenierte die stalinistische Propaganda eine gesellschaftliche Fiktion, um den französischen Premierminister Edouard Herriot über die Tatsachen des Hungervölkermords in der Ukraine hinwegzutäuschen. Der Aufwand war immens, die Täuschung jedoch erfolgreich. Herriot war ein beleibter Genußmensch, der seine Silhouette mit der einer Frau verglich, die Zwillinge austrage. Am Tag vor Herriots Besuch am 27.August 1933 war Kiew abgeriegelt und seine Bevölkerung zum Putzen und Dekorieren aufgefordert worden. Die leeren Schaufenster waren plötzlich voller Lebensmittel, allerdings nicht zum Kaufen. Die Polizei hatte man in frische Uniformen gesteckt. Sie mußte die verblüfften Massen auseinander treiben. Jeder, der entlang von Herriots geplanter Besichtigungsroute wohnte oder arbeitete, mußte zuvor eine Probe mitmachen, um zu zeigen, daß er wußte, wo er stehen und was er tragen solle. Herriot wurde den Chreschtschatyk, den Prachtboulevard und die Promeniermeile von Kiew, entlanggefahren. Er war voller Autoverkehr – die Wagen waren aus mehreren Städten herbeigeholt worden und wurden von KP-Parteiaktivisten gefahren, um Leben und Wohlstand zu demonstrieren.

Am 30. August besuchte Herriot die Kinderkommune Feliks Dzierzynski in Charkow, benannt nach dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei. Zu diesem Zeitpunkt verhungerten immer noch Kinder im Bezirk Charkow. Die Kinder, die der Gast sah, waren unter den gesündesten ausgewählt worden. Die Kleider hatten man ihnen für den Tag geliehen. Herriot sollte sehen, wie das neue Sowjetregime den Analphabetismus bekämpfte. Der Gast fragte völlig ahnungslos, was die Schüler zum Mittag gegessen hätten. Von der Antwort hing sein Bild der Sowjetunion ab. Wassili Grossman, der große Romancier und Dokumentator des Massentods erinnerte sich, daß die Kinder auf diese Frage vorbereitet waren und die richtigen Antworten gaben. Herriot glaubte, was er sah und hörte. Er reiste weiter nach Moskau, wo er bei einem Empfang mit Kaviar bewirtet wurde.