Bernini: Ludovica Albertoni

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Bernini: Ludovica Albertoni

Bernini war schon in seinen Siebzigern, als er die Altieri-Kapelle an der linken Seite der Kirche San Francisco a Ripa in Trastevere entwarf. Eingefügt in ein barockes Bühnenbild mit perspektivisch geschrägten Seitenwänden, einem Halbbogen, zurückversetztem Hintergrund mit einem ruhigen Altarbild, fällt der Blick auf die liegende Marmorskulptur der gesegneten Ludovica. In ihrer letzten Minute hat sie den Kopf zurückgeworfen, Augenlider und Mund sind halb geöffnet, die Rechte krallt sich an die Brust, die linke Hand bedeckt den Leib. Von der Seite blicken die Köpfe kleiner Cherubine auf die Sterbende herab. Das Licht, das von einem Fenster links auf die Figur fällt, zeichnet scharfe Konturen auf das voluminös drapierte Gewand, auf Kopf und Hand. Die Skulptur ähnelt der Heiligen Theresa in der Cornaro Kapelle von S.Marina della Vittoria. Doch zeigt sie nicht den Augenblick der Verzückung in der mystischen Begegnung mit dem Göttlichen, sondern den Moment des Todes. In der Sekunde, da der Mensch stirbt, erlebt er die Gegenwart Gottes – dies könnte man als die ikonologische Botschaft von Berninis Spätwerk lesen. Nicht umsonst ist die Liegestatt der Gesegneten, der Sarkophag, zugleich der Altar der Kapelle.

La Fontaine: Die Pest und der Esel

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La Fontaine: Die Pest und der Esel

In Pestzeiten sucht die Gesellschaft nach Sündenböcken, um ihnen eine persönliche Schuld für das allgemeine Unheil anzulasten. Im Fall der Tiergesellschaft traf es den Esel, auf den am Ende alle Tiere losgingen. Daß Tiere sich wesentlich anders verhalten als Menschen, davon ging der große Barockpoet La Fontaine in seinen Fabeln natürlich nicht aus. Die Meute und der Sündenbock sind universale Mechanismen der Verfolgung. La Fontaine kannte die Mechanismen des Sozialen so gut, daß man in nahezu jeder Fabel das Getriebe der Menschengesellschaft wiedererkennen kann.

Die pestkranken Tiere

Ein Unheil, alles Schreckens Born,
Das einst der Himmel schuf im Zorn
Als Rach‘ und Strafe für der Erde Missetaten,
Die Pest da man sie doch bei Namen nennen muß –
Die wohl an einem Tag anfüllt den styg’schen Fluß,
Bekriegte einst der Tiere Staaten.
Nicht alle starben, doch blieb keiner ganz verschont:
Nicht einen sah man, dem es lohnt,
Ein schleichend Leben noch zu fristen; keine Speise
Weckt‘ ihr Gelüst in alter Weise:
Nicht Wolf noch Fuchs erspähten mehr
Die sanfte unschuldsvolle Beute;
Die Turteltäubchen flohn umher,
Da Liebe nimmer sie erfreute.
Der Leu hielt Rat und sprach: »Ich glaub‘, ihr Freunde, dies
Verderbenschwangre Unheil ließ
Der Himmel zu ob unsrer Sünden.
Der Schuldigste von uns nun soll
Sich opfern dem Geschick und der Himmlischen Groll;
Vielleicht daß alle wir dadurch Genesung finden.
Lehrt die Geschicht‘ uns doch, daß solcher Opfer Kraft
In gleichem Falle Rettung schafft.
Verhehlen wir uns nichts, daß rücksichtslos man sehe,
Wie’s mit unsrem Gewissen stehe!
Was mich betrifft, so hab‘ ich aus Gefräßigkeit
Manch armes Schaf dem Tod geweiht.
Was hatten sie für Schuld? Gar keine;
Manchmal – gesteh‘ ich – ward gefressen unbeirrt
Auch der Hirt.
Ich will mich opfern, wenn’s sein muß; jedoch ich meine,
Gut wär’s, wenn jeder sich anklagen wollt‘ gleich mir.
Scheint es doch wünschenswert, daß sich nach Fug und Rechte
Der Schuldigste zum Opfer brächte.«
»»Sire«« sprach der Fuchs »»ein gar zu guter Fürst seid Ihr;
Ihr zeigt ein Ehrgefühl, das nur zu zart und fein ist.
Schafe fressen, dies Pack, das dumm und so gemein ist,
Heißt Sünde das? Nein, nein! Daß Ihr sie würgtet, war,
Für sie ’ne Ehre noch sogar.
Vom Hirten, den Eu’r Hoheit fraßen,
Sag‘ ich nur: es geschah ihm recht;
Er zählt zu jenen, die ein eingebildet Recht
Über die Tiere sich anmaßen.««
So sprach der Fuchs; es jauchzt‘ ihm zu der Schmeichler Schar.
Von nun an durfte keiner gar
Dem Tiger wie dem Bär und andern Großen wagen
Das mind’ste Unrecht nachzusagen.
Das ganz biss’ge Volk bis auf den Fleischerhund,
Sie taten alle sich als kleine Heil’ge kund.
Nun kam der Esel dran und sprach: »Als meine Straße
’ne Klosterwiese einst berührt,
Hat Hunger, frisches Gras und, wie ich wohl mutmaße,
Irgend ein Teufel mich verführt:
Ich fraß die Wiese ab, soweit die Zunge reichte;
Ich hatt‘ kein Recht dazu, wenn ich soll ehrlich sein.«
Da stürmten mit Hallo sie auf das Langohr ein;
Ein redelist’ger Wolf bewies, nach dieser Beichte
Sei’s klar geboten, daß man ihn zum Opfer nähm‘,
Den räud’gen Lump, von dem das ganze Unheil käm‘!
Zum Tod ward er verdammt ob seiner kleinen Schwächen.
Zu fressen fremdes Gras! Welch schmähliches Verbrechen!
Der Tod allein vermag’s zu rächen!
So klang das Urteil; streng an ihm vollzogen ward’s.

Bist stark du oder schwach? Das ist die Frag‘; es sprechen
Die Herren Richter dich danach weiß oder schwarz.

X – phobie. Über eine Methode der Diffamierung

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Wolfgang Sofsky

X – phobie. Über eine Methode der Diffamierung

Zu den aktuellen Techniken der politischen und sozialen Ächtung gehört die Stigmatisierung als „phobisch“ oder „feindlich“. Wer an der Tatsache festhält, daß es biologisch lediglich zwei Geschlechter gibt, es aber mancherlei sexuelle Orientierungen und Desorientierungen gibt, gilt als „trans“- oder „queerphob“. Wer andere, ihm unbekannte oder fremde Personen, nicht als seine Freunde betrachtet und seine Feinde sogar als Feinde erkennt, gilt als „xenophob“. Wer Anhänger Allahs für leichtgläubig oder bigott hält und die Millionen radikaler Muslime weltweit nicht zu seinen besten Freunden zählt, gilt als „islamophob“. Wer die miserablen Zustände in einigen Ländern des Südens auch nach vielen Jahrzehnten nicht für das Ergebnis des europäischen Imperialismus hält, gilt als „Spätkolonialist“ oder „Rassist“. Wer nicht alle Flüchtlinge dieser Welt im eigenen Land aufzunehmen wünscht, gilt gleichfalls als xenophob, rassistisch oder „unmenschlich“. Wer etliche Subjekte, welche zur Zeit die Straßen, Plätze, Bühnen und Bildschirme bevölkern, nicht für die klügsten Exemplare der Tierart Mensch hält, gilt generell als „menschenverachtend“.  Die Diskreditierung benutzt stets dieselbe Methode: Sie stigmatisiert denjenigen, der nicht der eigenen Meinung oder Gesinnung folgt, als psychisch, moralisch oder politisch krank.  Er ist ein Extremist, ein Faschist, ein Nazi (was i.ü. nicht dasselbe ist), jedenfalls ein Feind der Demokratie. Nur wer der eigenen Gesinnung entspricht – und die eigene Partei wählt, ist ein wahrer Demokrat. Alle anderen sind es nicht. Sie gehören beobachtet, notiert, geächtet, eingesperrt.

Der Vorwurf der Phobie entspringt vollständiger Ahnungslosigkeit. Phobien sind bekanntlich unbegründete und unberechtigte Ängste vor bestimmten Objekten oder Situationen. Dies können offene oder geschlossene Räume, weite Flächen oder steile Abgründe sein, es können Plätze, Brücken, Gassen, Flugzeuge oder Eisenbahnen, leere Orte oder dichte Menschenansammlungen sein, Tiere aller Art, seien es Schlangen, Spinnen, Käfer oder Eichhörnchen. Phobien können einer Konditionierung entspringen, einem einmaligen Trauma oder einer unbewußten Verschiebung des Angstobjekts. Sie können limitiert sein oder die Seele überschwemmen und das Leben massiv einschränken. Im besten Falle tut die Zuschreibung einer Phobie nur so, als fürchte der Betreffende eine völlig harmlose Sache. Abgesehen davon, daß sich unter Fremden auch Feinde oder Kriminelle befinden, unter Muslimen auch Islamisten, unter sexuell Desorientierten auch Pädophile oder sadistische Gewalttäter. Doch in Wahrheit dient der pseudoklinische Begriff der „Phobie“als  politisches und soziales Stigma. Es soll den Betreffenden als unzurechnungsfähig, idiotisch, bösartig, haß- und hetzerfüllt an den Pranger stellen und für die allgemeine Empörung und Verfolgung freigeben.     

Es ist nicht überraschend, daß bei der Ächtung und Verfolgung  psychiatrische Zuschreibungen eine wichtige Rolle spielen. Abweichende Meinungen als Ausgeburt des Wahnsinns zu klassifizieren und unliebsame Dissidenten in psychiatrische Anstalten wegzusperren, war schon immer eine bevorzugte Taktik totalitärer Repression. So errichtet man Verbotszonen,  eliminiert das freie Denken und erzeugt einen Zwangskonsens, der alles überdeckt, vor allem aber die gefährliche Illusion der Harmonie nährt. Diese Illusion kann nämlich ziemlich rabiat werden. Nur der geringste „Mißton“ ruiniert die Phantasie des heiligen Gleichklangs. Er ruft sofort Entrüstung, Wut, ja Haß hervor. Es ist nicht nur so, daß die politische Herrschaftsform der Demokratie hier mit der sozialen, emotionalen und habituellen Gleichförmigkeit gestützt werden soll. Vielmehr soll das Regime einer Minderheit durchgesetzt werden. Dadurch verwandelt sich die Demokratie in eine Gesinnungsdiktatur. Ihr größter Vorteil, die Schurken gewaltlos durch Wahlen wieder loswerden zu können, ist dahin.  Gesittung und Seele werden Gegenstände der Überwachung, Moral zu einer Waffe der Macht.

Nicht umsonst sind  die staatlich verfaßten Erziehungsanstalten Schwerpunkte der Indoktrination. Dies liegt keineswegs nur an der Verwechslung von Wahrheit und Rechthaberei. Von der Kita bis zur Akademie reicht das Feld der ideologischen Macht. Wie auch sonst geht es in den Systemen der Kultur um Posten, Pfründe und Pensionen, um Geld und Macht. Zuletzt will man alle Einrichtungen zu moralisch-politischen „Erziehungs“anstalten umwandeln: das Theater, die Sprache, die Musik, die bildenden Künste, den Film, den Sport, die Show, die Vereine, Redaktionen, Behörden, Parteien und Parlamente. Wie einstmals die Kleriker der Kirche in alle gesellschaftlichen Bereiche einzudringen suchten, um das christliche Weltbild mit leeren Versprechen, Drohung, Zwang oder Gewalt durchzusetzen, so sind gegenwärtig unzählige staatliche, parastaatliche und private, selbsternannte Aufpasser am Werke. Höchste Zeit, sie alle in ihre Schranken zu weisen und den Trägern, Zuträgern, Claqueuren und Duckmäusern der Diffamierung und Denunziation mit aller Entschiedenheit entgegen zu treten.   

 WS 2024

Kielmansegg: Wider die Gesinnungsgemeinschaft

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Kielmansegg: Wider die Gesinnungsgemeinschaft

Peter Graf Kielmansegg, der Mannheimer Emeritus für Politikwissenschaft, hat heute in der FAZ einen kleinen Artikel „Gesinnungsgemeinschaft statt offener Gesellschaft. Zur beunruhigend starken Zeitströmung der Illiberalität“ veröffentlicht. Er zeichnet deutlich den plumpen Mechanismus der Diskreditierung nach und erwägt mögliche Ursachen im System der Wissenschaften. Der zweite Punkt bedarf indes noch weiterer Klärung. Warum sind die weichen Fächer in der Universitäten die Quelle der Illiberalität? Hier der Text von Kielmansegg:

„Zu den ersten Aufgaben, die die UNESCO nach ihrer Gründung in. den Nachkriegsjahren in Angriff nahm, gehörte auch diese: Sie organisierte eine weltweite Befragung von Fachleuten zum Begriff der Demokratie. Ihre Hoffnung war es, einen intellektuellen Konsens darüber, was Demokratie sei, zutage fördern zu können. Und, kühner, mit der Präsentation eines intellektuellen Konsenses einem politischen Konsens  den Weg zu ebnen. Franklin D. Roosevelts visionäre Erwartung, die Nachkriegswelt werde sich im Einvernehmen zwischen West und Ost aufbauen lassen, wirkte in dieser Hoffnung fort.

Die Ergebnisse des Projektes legte der kanadische Politikwissenschaftler  Richard McKeon 1951 im Auftrag der UNESCO in dem Band  „Democracy in a World of Tensions“  vor. Dort kann man nachlesen, dass der Versuch gescheitert ist. Es gab keine Übereinstimmung darüber, was Demokratie sei. Liberales und sozialistisches Demokratieverständnis standen gegeneinander, von den Bemühungen, auch noch Stalins Autokratie als Demokratie auszugeben, ganz zu schweigen.

Wiederholte man die Befragung heute, mehr als siebzig Jahre später, so würden wohl andere, neue Dissense zutage treten, aber es würde sich wiederum zeigen: Demokratie ist kein Konsensbegriff. Die Frage bleibt freilich, ob sich nicht wenigstens einige wenige Existentialia benennen lassen, die jeder im Sinn hat, der nicht nur zum Schein von Demokratie spricht. Und ob nicht die Freiheit des Denkens und Redens in weiten Grenzen zu diesen Essentialia gehört; genauer: ob nicht die Freiheit des Denkens und Redens eine Bedingung der Möglichkeit des demokratischen Politikprozesses ist; das, was Popper die offene Gesellschaft genannt hat, und Demokratie also zwei Seiten einer Medaille sind.

Eine abstrakte Verständigung darüber, dass es so sei, ist vermutlich, ziemlich einfach. Tatsächlich aber verlaufen genau hier Fronten, an denen heftig gekämpft wird. Das hat zum einen mit der Kommunikationsrevolution der vergangenen Jahrzehnte zu tun. Das Internet hat auf der einen Seite neue Strukturen der Macht geschaffen, die nicht demokratiefreundlich sind. Und es hat auf der anderen Seite Räume einer häßlichen Anarchie geöffnet, die nicht demokratiefreundlich ist. Aber das ist nur die eine Front. Die andere: Die intellektuelle Welt zeigt sich seit einiger Zeit immer anfälliger  für die Versuchung der Idee, der demokratiegemäße Modus der Vergesellschaftung sei nicht die offene, regelgebundene Gesellschaft, sondern die Gesinnungsgemeinschaft. Ausgegeben wird die Gesinnungsgemeinschaft, um unangreifbar zu sein, als Gesinnungsgemeinschaft der Demokraten.

Tatsächlich aber sind es Zumutungen ganz anderer Art, die zum Test für eine korrekte demokratische Gesinnung erklärt werden. Gute, demokratische Gesinnung, um vier zentrale Testfelder zu nennen, zeigt sich in der Überzeugung, daß der Mensch sein Geschlecht frei wählen könne und es mehr als zwei Geschlechter gebe; daß der Imperialismus der Europäer fortwirkend für alle Übel der Welt verantwortlich sei; daß die Grenzen für alle, die in Europa oder Nordamerika Zuflucht suchen, offen zu halten seien; daß die Sprache einer grundlegenden Reinigung unterzogen werden müsse, um die Vorherrschaft des Mannes zu brechen.

Der Argumentationsweg ist immer der gleiche: Wer anders denkt, als es diese Vorgaben verlangen, diskriminiert. Man schreibt ihm eine Phobie, genau genommen also eine krankhafte Furcht, zu. Wer an Transphobie, Xenophobie, Islamophobie und so fort krankt, ist politisch krank, ein Extremist, natürlich rechter Provenienz. Extremisten  rechter Provenienz aber sind Demokratiefeinde. So werden im Namen der Demokratie Tabuzonen geschaffen, in denen nur noch das Bekenntnis zur herrschenden Gemeinschaftsgesinnung als Bekenntnis zur Demokratie gilt. Die Paradoxie der fortschreitenden Einschränkung der Freiheit des Denkens und Redens im Namen der Demokratie wird Wirklichkeit – bis hin zur Perversion, jüngst durch eine Universitätspräsidentin ad oculos demonstriert, daß das Eintreten für die Meinungsfreiheit auch derer, die den Maximen des Zeitgeistes wiedersprechen, als Bedrohung der Demokratie gebrandmarkt wird.

Eine besondere und zugleich zentrale Frage liegt nahe: Warum sind gerade die Universitäten, zumal der angelsächsischen Welt, aber auch hierzulande, Orte, an denen die Neigung, die eigenen Anschauungen zu allen möglichen Fragen als allein mit der Demokratie kompatibel zu erklären, so blüht?  Müßten nicht gerade die Universitäten sich als Räume der Freiheit des Denkens und Redens , als Räume der Offenheit verstehen und den beunruhigend starken Zeitströmungen der Illiberalität entgegentreten?

Es gibt keine Antwort auf diese Frage, die sich aufdrängt.  Aber man kann Vermutungen wagen. Zum Ethos wissenschaftlicher Wahrheitssuche gehört eigentlich die Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren, wenn neue, bessere Erkenntnis es nahelegt. Es wäre aber nicht sonderlich überraschend,  wenn sich mit der Überzeugung , professionell im Dienst der Wahrheitssuche zu stehen, auch der Habitus, stets recht zu haben, verbände. Und in den wissenschaftlichen Disziplinen, in denen das Wissen und das Meinen ohnehin nicht immer scharf zu unterscheiden sind, die Neigung da und dort stark wäre, das eigene Meinen als wissenschaftliche Wahrheit zu präsentieren. Hochschulen, zumal ihrem Selbstverständnis nach die angelsächsischen, sind aber auch Anstalten der Erziehung. Das mag hypertrophe  Vorstellungen von einer besonderen Verantwortlichkeit für die gesellschaftliche und politische Moral fördern. Daß andererseits Zivilcourage in der akademischen Weit nicht besonders gut gedeiht, wissen wir ohnehin.

Wie immer man sich aber auch das merkwürdige Phänomen erklären mag – daß gerade Universitäten sich zunehmend als Zensurinstanzen gebärden, daß es im Namen der Demokratie geschieht, ist das eigentlich Beunruhigende an der Entwicklung. Der Versuch, die offene Gesellschaft in eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten, will sagen, eine Gemeinschaft derer, die so denken wie man selbst, umzuformen, beschädigt auf die Dauer die Demokratie in ihrem Kern.“

Nie wieder !!!“

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„Nie wieder !!!“

Nach dem verlorenen Weltkrieg schworen sich viele deutsche Zeitgenossen: „Nie wieder“. Sie meinten damit „Nie wieder Krieg“ und nicht „Nie wieder Holocaust“. Aus dieser Zeit rührt der chronische Neigungspazifismus vieler Deutscher, der mit fortgesetztem, aber lange Zeit stillschweigendem Judenhaß durchaus verträglich ist. So kann man problemlos den Krieg Israels gegen die Terrorbande Hamas verurteilen. Schließlich ist man gegen Krieg, auch wenn dann tagtäglich Raketen auf Israel abgefeuert werden, ab und zu ein Dorf überfallen, seine Einwohner abgeschlachtet oder verschleppt werden und das Land schließlich von der Landkarte werden wird.

Kafka: Der zehnte Sohn

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Kafka: Der zehnte Sohn

Der sorgenvolle Hausvater, den der muntere Odradek leichthin überleben wird, hat elf Söhne, von denen eine weitere Erzählung im Sammelband „Der Landarzt“ von 1919 berichtet. Keiner von den elf ist so ganz geraten. Der eine ist unansehnlich, der andere allzu leichtfertig, ein weiterer eigensinnig, der letzte schwächlich. Der zehnte Sohn ist keineswegs der Lieblingssohn, denn wer Söhne mit derartigen Fehlern und Mißbildungen hat, hat auch keinen Lieblingssohn. Er ist vielmehr von boshafter Lebendigkeit und Heuchelei. Er erinnert an so manche Zeitgenossen:

Mein zehnter Sohn gilt als unaufrichtiger Charakter. Ich will diesen Fehler nicht ganz in Abrede stellen, nicht ganz bestätigen. Sicher ist, daß, wer ihn in der weit über sein Alter hinausgehenden Feierlichkeit herankommen sieht, im immer festgeschlossenen Gehrock, im alten, aber übersorgfältig geputzten schwarzen Hut, mit dem unbewegten Gesicht, dem etwas vorragenden Kinn, den schwer über die Augen sich wölbenden Lidern, den manchmal an den Mund geführten zwei Fingern – wer ihn so sieht, denkt: das ist ein grenzenloser Heuchler. Aber, nun höre man ihn reden! Verständig; mit Bedacht; kurz angebunden; mit boshafter Lebendigkeit Fragen durchkreuzend; in erstaunlicher, selbstverständlicher und froher Übereinstimmung mit dem Weltganzen; eine Übereinstimmung, die notwendigerweise den Hals strafft und den Körper erheben läßt. Viele, die sich sehr klug dünken und die sich, aus diesem Grunde wie sie meinten, von seinem Äußern abgestoßen fühlten, hat er durch sein Wort stark angezogen. Nun gibt es aber wieder Leute, die sein Äußeres gleichgültig läßt, denen aber sein Wort heuchlerisch erscheint. Ich, als Vater, will hier nicht entscheiden, doch muß ich eingestehen, daß die letzteren Beurteiler jedenfalls beachtenswerter sind als die ersteren.“

Kafka: Odradek

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Kafka: Odradek

Kafkas kurze Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ erschien 1920 in dem Band „Ein Landarzt“. Sie handelt vornehmlich von Odradek, einem sonderbaren „Gebilde“, von dem nicht recht klar ist, um was es sich genau handelt. Der Eigenname „Odradek“ bezeichnet keine Klasse von Objekten, sondern ein einzigartiges Einzelding, das einer Zwirnspule zu gleichen scheint, aus dem ein Querstäbchen hervorragt, an dem wiederum ein zweites Querstäbchen angefügt ist, so daß das Ding wie auf zwei Bahnen aufrecht stehen kann.

Odradek, diese Ausgeburt der Phantasie des Spaßvogels Kafka hat unzählige Deutungen hochfliegender und hochtrabender Art hervorgebracht, die vergeblich versucht haben, dem Objekt einen tieferen oder höheren Sinn zu verleihen. Als müßte jedes einzelne Objekt irgendeine Bedeutung tragen. Odradek gleicht in Wahrheit nichts Bekanntem, es ist weder defekt noch erfüllt es einen Zweck. Offenbar ist Odradek zu nichts zu gebrauchen, es sei denn zu wortreichen Erwägungen über seinen tieferen Sinn, zu vielerlei Essays, Abhandlungen, Magister- oder Hausarbeiten. Doch so sinnlos er oder es (Odradeks Geschlecht ist zuletzt unbestimmt) ist, er hat einige erstaunliche Eigenschaften. Er ist aus eigener Kraft so beweglich, daß niemand ihn zu fangen vermag. Er kommt und geht, ist manchmal auf dem Dachboden, im Treppenhaus, im Flur oder auch nur in der flüchtigen Vorstellung, wenn er einmal für Monate verschwunden ist. Zudem ist Odradek mit der menschlichen Sprache vertraut. Er versteht Fragen, und will man wissen, wo er wohnt, antwortet er lachend: „unbestimmter Wohnsitz“. Odradek hat offenbar Humor, er weiß, wer er ist. Aber er ist wortkarg. Und vielleicht weiß er sogar, daß er unsterblich ist. Denn was keinen Zweck hat, hat auch kein Ende. Und was nur in der Vorstellung existiert, wie jener des sorgenvollen Hauspatriarchen, ist ohnehin von ewiger Dauer. Hier Kafkas Text:

„Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.

Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.

Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.

Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek«, sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz«, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.

Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.“

Kant: Über Distanz

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Kant: Über Distanz

1803 brachte Friedrich Theodor Rink Kants Vorlesungen zur Pädagogik heraus. Kant, der in Erziehungsfragen manches von Rousseau zu schätzen wußte, erwähnt darin eine Einsicht von Laurence Sterne, die nicht auf soziale Einheit oder Gemeinschaft abzielt, sondern auf den nötigen Abstand unter Menschen:

„Toby sagt im Tristram Shandy zu einer Fliege, die ihn lange beunruhiget hatte, indem er sie zum Fenster hinausläßt: „Gehe, du böses Tier, die Welt ist groß genug für mich und dich!“ Und dies könnte jeder zu seinem Wahlspruche machen. Wir dürfen uns nicht einander lästig werden; die Welt ist groß genug für uns alle.“

Kant: Die Quellen des Vorurteils

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Kant: Die Quellen des Vorurteils

Vorurteile wirken häufig wie eine Festung wider die Aufklärung und Selbstaufklärung. Kant, dessen 300. Geburtstag dieses Jahr zu feiern ist, hat daher auch einige Gedanken zu den Quellen der Vorurteile festgehalten. So heißt es in der Logik-Vorlesung, die Kant seit 1765 regelmäßig abhielt und deren Herausgabe Gottlob Nejamin Jäsche 1800 übernahm, über die allzumenschlichen Ursachen der Vorurteile, die stets gedankenlos vor dem bedachten Urteil gefällt werden:

„Die Hauptquellen der Vorurteile sind: Nachahmung, Gewohnheit und Neigung.

Die Nachahmung hat einen allgemeinen Einfluß auf unsre Urteile; denn es ist ein starker Grund, das für wahr zu halten, was andre dafür ausgegeben haben. Daher das Vorurteil : Was alle Welt tut, ist Recht. — Was die Vorurteile betrifft, die aus der Gewohnheit entsprungen sind, so können sie nur durch die Länge der Zeit ausgerottet werden, indem der Verstand, durch Gegengründe nach und nach im Urteilen aufgehalten und verzögert, dadurch allmählich zu einer entgegengesetzten Denkart gebracht wird. Ist aber ein Vorurteil der Gewohnheit zugleich durch Nachahmung entstanden: so ist der Mensch, der es besitzt, davon schwerlich zu heilen. — Ein Vorurteil aus Nachahmung kann man auch den Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft nennen; oder zum Mechanism der Vernunft, statt der Spontaneität derselben unter Gesetzen.

Vernunft ist zwar ein tätiges Prinzip, das nichts von bloßer Autorität anderer, auch nicht einmal, wenn es ihren reinen Gebrauch gilt, von der Erfahrung entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen macht, daß sie lieber in anderer Fußtapfen treten, als ihre eigenen Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur Kopien von andern werden, und wären alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben.

Es ist daher höchst nötig und wichtig: die Jugend nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zum bloßen Nachahmen anzuhalten.“

Strauss: Vier letzte Lieder

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Wolfgang Sofsky
Solti und Kanawa proben Strauss: „Vier letzte Lieder“

Zum heutigen achtzigsten Geburtstag von Kiri de Kanawa hier ein Verweis auf ein Video und einen Beitrag von 2014.

Am 11.6.14, zum 150.Geburtstag von Richard Strauss ist allerlei zur Person, seinem Leben, seinem Charakter, nicht zuletzt zu seinem Verhältnis zu den Nazis zu lesen. In solchen Fällen, da der Wert des Werks an der Moral des Urhebers gemessen wird, ist es nützlich und lehrreich, Künstler selbst bei der Arbeit zu beobachten. Hier proben Georg Solti und Kiri te Kanawa Straussens „Vier letzte Lieder“, zuerst am Klavier, dann mit dem BBC Philharmonic Orchestra. Der zweite Teil des Films (Gesamtdauer ca.43 Min.) ist dem Konzert in der Free Trade Hall in Manchester am 17.6.1990 vorbehalten. Man wundere sich nicht über die damalige Mode bei Orchesterproben. Aber man folge nicht nur den Erläuterungen Soltis und der virtuosen Gesangskunst Kanawas, sondern auch dem gespielten Flirt zwischen dem Dirigenten und der Sängerin. Als Zugabe ferner die Gedichte von Hesse und Eichendorff.

1. „Frühling“ (Text: Hermann Hesse)

In dämmrigen Grüften
träumte ich lang
von deinen Bäumen und blauen Lüften,
Von deinem Duft und Vogelsang.

Nun liegst du erschlossen
In Gleiß und Zier
von Licht übergossen
wie ein Wunder vor mir.

Du kennst mich wieder,
du lockst mich zart,
es zittert durch all meine Glieder
deine selige Gegenwart!

2. „September“ (Text: Hermann Hesse)

Der Garten trauert,
kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt
nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
In den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen
bleibt er stehn, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er
die müdgeword’nen Augen zu.

3. „Beim Schlafengehen“ (Text: Hermann Hesse)

Nun der Tag mich müd gemacht,
soll mein sehnliches Verlangen
freundlich die gestirnte Nacht
wie ein müdes Kind empfangen.

Hände, laßt von allem Tun
Stirn, vergiß du alles Denken,
Alle meine Sinne nun
wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele unbewacht
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.

4. „Im Abendrot“ (Text: Joseph von Eichendorff)

Wir sind durch Not und Freude
gegangen Hand in Hand;
vom Wandern ruhen wir (beide) (von Strauss gestrichen)
nun überm stillen Land.

Rings sich die Täler neigen,
es dunkelt schon die Luft.
Zwei Lerchen nur noch steigen
nachträumend in den Duft.

Tritt her und laß sie schwirren,
bald ist es Schlafenszeit.
Daß wir uns nicht verirren
in dieser Einsamkeit.

O weiter, stiller Friede!
So tief im Abendrot.
Wie sind wir wandermüde–
Ist dies etwa der Tod?

© WS 2024

Was ist radikale Aufklärung?

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Wolfgang Sofsky
Was ist radikale Aufklärung?

Zur Zeit erwägen manche Zeitgenossen, was es denn mit der Aufklärung noch auf sich habe, angesichts politischer „Umbrüche“, gesellschaftlicher Konflikte, klimatischer, polemischer oder viraler Bedrohungen und menschheitsgeschichtlicher Fatalitäten. Natürlich blicken viele zuerst zurück auf Immanuel Kants klassische Empfehlung, ein jeder solle seine Vernunft selbständig gebrauchen, ohne sich an Autoritäten, Traditionen, Gewohnheiten, Vorurteile anzulehnen. Doch setzt der Gang aus der selbst- und fremdverschuldeten Unmündigkeit  voraus, daß sich der Mensch seiner Feigheit und Faulheit, seiner Bequemlichkeit und Beflissenheit enthebt, das Rückgrat aufrichtet, Augen und Sinne öffnet und sich daran macht, selbst zu denken, ohne aus dem Augenwinkel darauf zu schielen, wie andere das finden, was er denkt und tut. Wer sich über die Welt und sich selbst aufklärt, hat mit einer Vielzahl innerer und äußerer Widerstände zu rechnen, mit sozialen Reserven und mit der selbstauferlegten Vorsicht, es bloß nicht zu radikal zu treiben und es sich mit den Göttern und irdischen Machthabern nicht gänzlich zu verderben. So kommen dann gebremste, moderate Aufklärer heraus, Bedenken tragende Denker wie M.Mendelssohn, Lessing, Kant, Montesquieu, Voltaire oder Hume, die sich mit der Obrigkeit und ihren ideologischen Propagandisten zuletzt nicht anlegen wollen. Diese angepaßte, halbherzige Aufklärung schließt rasch ihren Frieden mit den intellektuellen und sozialen Verhältnissen und verrät so den Impuls, den jede Aufklärung antreibt.

Seit den Studien von Margaret C. Jacob (The Radical Enlightenment 1981), Jonathan Israel (Radical Enligthenment, 2001), Martin Muslow (Moderne aus dem Untergrund, 2002) und einigen anderen sind die frühen, häufig klandestinen Radikalaufklärer in England, Frankreich (darunter P.Bayle, La Mettrie, Diderot, Baron d´Holbach, Tom Paine, Condorcet, etc.), vereinzelt auch in Deutschland wieder an die Öffentlichkeit gelangt. Diese Freidenker, Schriftsteller, Pamphletisten und Reformer hielten meist keine akademischen Lehrstühle besetzt, sondern bewegten sich im Halbdunkel des Untergrunds. Sie stellten damals Fragen wie die folgenden: Wie viel religiöse Toleranz ist sinnvoll, ohne den Selbstbetrug der Untertanen zu fördern? Warum glauben Menschen an Götter? Wie viel persönliche und sexuelle Freiheit ist erlaubt, wie viel Presse- und Meinungsfreiheit ist geboten? Ist Zensur überhaupt gestattet? Was ist besser: Monarchie oder Republik, Oligarchie, Demokratie oder Anarchie? Bedarf es einer Aristokratie? Sind Kolonialreiche und Sklaverei zu rechtfertigen? Was sollen junge Menschen lernen, sollen Mädchen dieselbe Erziehung erhalten wie Jungen etc.? Im 17. Und 18. Jahrhundert diskutierten die Vordenker der radikalen Aufklärung solche Fragen, lange bevor die großen Revolutionen der Gleichberechtigung aller Bürger proklamierten und den Status des Untertanen kurzzeitig in Frage stellten.

Die moderate Aufklärung mündete nicht selten in neue Ideologien, in humanistischen Anthropozentrismus, in den ungetrübten Glauben an Fortschritte, Wissenszuwächse, moralische Verbesserung, technische Entwicklungen, schließlich in politische Religionen der Menschheitsbeglückung etc. Diese Irrwege sind nicht dadurch zu vermeiden, daß man die Aufklärung verabschiedet, wie es schlechte deutsch-romantische Tradition ist, sondern indem man ihr Prinzip stetig aufrechterhält. Aufklärung, die den Namen verdient, gewährt keine Schutzzone. Sie unterzieht alles einer kritischen Prüfung, auch die Grundlagen der gegenwärtigen Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbilder, die normativen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, darunter nicht nur die vulgärromantischen Ideen von sozialer oder ethnischer Gemeinschaft, von allgemeiner Versöhnung, Solidarität und Gleichheit, sondern auch die Werte von individueller und politischer Freiheit, von Versorgung, Konkurrenz, Wachstum, Globalismus, Demokratie, Weltgesellschaft etc. Nichts ist vor der Kritik sicher, der Relativismus der Kulturen ebensowenig wie der „Universalismus“ gewisser „Werte“. Die Klärung von Begriffen, die Prüfung von Argumenten und Theorien, von ideologisch-moralischen Versatzstücken, von unbefragten Traditionsbeständen oder neu installierten Vokabularien und Zensurregeln, all dies gehört zum Geschäft der radikalen Aufklärung. Alle Meinungen und Überzeugungen stehen unter dem Verdacht des unbefragten Vorurteils. Nichts ist der Aufklärung heilig, weder die Religion noch das Gesetz, weder der Monotheismus noch der Polytheismus in allen Varianten, weder die Oligarchie, die sich als Demokratie zu tarnen pflegt, weder die Regierung, das Parlament, die Parteien, Bürokratien, Protestbewegungen noch die Appellpolitik zur Rettung der Welt, des Klimas, der Gesellschaft etc.  Auf Autoritäten nimmt die Aufklärung keinerlei Rücksicht. Nur was radikaler Kritik standgehalten hat, kann bis auf weiteres Achtung beanspruchen. Was nur stumpfsinnig in der Öffentlichkeit repetiert wird, ist als Vorurteil besonders verdächtig. Denn je öfter eine These wiederholt wird, desto fragwürdiger ist ihre Geltung.

Radikale Aufklärung ist ein Geschäft für jedermann. Jeder kann von einer Sekunde zur anderen sich seines Verstandes bedienen und reichlich davon Gebrauch machen. Jenseits falscher Sekuritäten verspricht die radikale Kritik, daß am Ende nur übrig bleibt, was – bis auf weiteres – den Anspruch auf Wahrheit (im Falle von Tatsachenbehauptungen) oder Richtigkeit (im Falle von moralischen Urteilen) erfüllt hat. Jenseits von Vertrauen, Versprechen und Hoffnungen setzt die Aufklärung allein auf die Waffe der Kritik. Sie trennt das, was zu erhalten ist, von dem, was weiterer Gedanken unwürdig und daher alsbald zu vergessen ist. Hierzu rechnet der gesamte Bestand persönlicher, sozialer und politischer Illusionen. Aufklärung ist stets Desillusionierung. Insofern sorgt radikale Aufklärung für frische Luft im Gehirn, für klare Sicht und für souveränen Abstand zu dem Treiben der Gläubigen, Halbgläubigen, Achtelgläubigen, der Unwissenden und Halbwissenden, der Lügner und Betrüger, Vorbeter und Nachsprecher, der Machthaber in Politik, Wirtschaft, Religion und Gesellschaft – und ihrer Millionen von Helfershelfern.

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Bernini: Der Elefant

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Bernini: Der Elefant

1665 grub man im Garten der römischen Dominikanerkirche Santa Maria sopra Minerva zufällig einen über fünf Meter hohen Obelisken aus. Papst Alexander VII. beauftragte seinen Hofkünstler und –architekten Bernini damit, den Obelisken auf dem Platz vor der Kirche zu präsentieren. Bernini besann sich seiner alten Zeichnungen und wählte einen Elefanten als Sockel für den hohen Stein. Die Mönche befürchteten jedoch, daß das Tier unmöglich den schweren Obelisken halten konnte, wenn der Raum unter seinem Bauch hohl bliebe und es nur auf vier Beinen stünde. Bernini gab den Auftrag an Ercole Ferrata weiter, der dem Elefanten eine schwere Satteldecke überwarf und darunter das Sockelmassiv für den Obelisken versteckte. Wir wissen nicht, was das Lasttier von diesem Prozedere hielt. Der Elefant ist ja nicht nur ein Symbol der Kraft und Masse, der Weisheit und christlichen Frömmigkeit. Etwas unwirsch scheint er den Kopf zu wenden und den Rüssel zurückzuwerfen. Das Maul ist leicht geöffnet, doch die Augen sprechen eine ganz eigene Sprache. Es ist, als blickte das Tier aus einer anderen Welt hinab auf die Menschen, die ihm einen tonnenschweren Kultstein auf den Rücken geladen haben, den er nicht mehr abwerfen kann.