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Wolfgang Sofsky
Lady Dada: Elsa von Freytag-Loringhoven
Obwohl die Geburtsstätte von Dada nach offizieller Geschichtsschreibung im Züricher Cabaret Voltaire lag und obwohl es in New York laut Man Ray niemals Dadamerika gegeben haben soll, mag sich der eine oder andere an eine Dame erinnern, die man als „Lady Dada“ titulieren kann oder als Proto-Punk-Lady, zumal ihrer schon damals als „Dadaqueen“ gehuldigt wurde: der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, einer Dichterin, Malerin, vor allem aber Performistin der allerersten Stunde, die außer ihren Bildern, Versen und Objekten vor allem sich selbst, ihren Körper, ihre Triebe, ihr Leben in eine Art Kunstwerk verwandelte, als Provokation gegen sittsamen Leumund und Geschmack.
Bevor sie im Juni 1910 nach den USA übersiedelte, wurde Elsa am 12.Juli1874 zufällig in Swinemünde geboren, als Tochter eines Maurermeisters und einer Pianistin, 1887 schrieb sie ihr erstes Gedicht und soll die Vorliebe ihres Vaters für obszöne Witze geteilt haben. Ein Jahr darauf begann sie zu rauchen, ihre Schulleistungen unter höheren Töchtern blieben ungenügend, im Alter von vierzehn ließ die Mutter allen weiblichen Familienangehörigen die Haare kurz schneiden. Zwei Jahre später versuchte die Pianistin, sich in der Ostsee zu ersäufen, vergeblich, sie starb 1893 an Krebs. Tochter Elsa indes brach ihr Kunststudium ab und rebellierte gegen die verordnete Wohlanständigkeit ihrer neuen Stiefmutter, indem sie sich hauptsächlich Männer in den Kopf setzte.
Ab 1894 arbeitete sie als „lebende Skulptur“, als Nacktmodell im Varieté und als Revuegirl im Berliner Central-Theater. Diverse Affairen führten sie ins Umfeld des George-Kreises, 1897 sah man sie als Marquise de Mondecar im Stadttheater Cottbus, 1898 verteilte sie die Libido auf zwei Schmitz-Brüder in Sorrent, dann malte sie Bilder unweit der römischen Piazza del Popolo, erotisch unterstützt von einem älteren Bildhauer. Im Februar 1900 verkehrte sie jeden Donnerstag im Haus der Dichters Karl Wohlskehl in München, im Herbst wurde sie Schülerin, Geliebte, schließlich Ehefrau des Berliner Architekten August Endell. Zu dieser Zeit begann sie, ausgefallene Kostüme zu entwerfen. 1902 erschien der Student Felix Greve am Liebeshimmel, ihre „Sex-Sonne“, was 1903 zu einem Selbstmordversuch des Ehegatten und schließlich zur Scheidung führte. In Neapel, Rom und Palermo folgten weitere Affairen mit wechselnder Besetzung. Mit Greve wohnte Elsa in einem Haus in Étables-sur-Mer, das André Gide den beiden besorgt hatte. Dort verfaßte Felix einen Roman namens „Fanny Essler“, deren Hauptperson niemand anderes als Elsa war. 1907 heirateten beide in Berlin, woraufhin Elsa nach einem Nervenzusammenbruch einige Zeit in einer Klinik verbrachte. Im Sommer 1909 täuschte Felix, um seinen Gläubigern zu entgehen, einen Selbstmord vor, einer in Elsas Umkreis bewährten Praxis, und verschwand nach Amerika, wohin ihm Elsa ein Jahr später nachfolgte.
Im Herbst 1911 verließ Felix Greve seine Ehegattin, die danach mit einigen Afroamerikanern in einem Zelt lebte und Englisch lernte. Im Winter 1912 zog sie endlich nach New York und heiratete Leopold Baron von Freytag-Loringhoven, wobei sie die noch ungeschiedene Ehe mit Felix verschwieg, sich selbst aber dafür elf Jahre jünger machte. Der Baron hatte wegen Spielschulden seine Offizierskarriere abgebrochen und war – wie Felix – in die USA ausgewichen, um sich dort als Chauffeur und Kellner zu betätigen. Auf dem Weg zur Eheschließung am 19.11.1913 kam es zu einer ungeplanten Kunstaktion. Elsa fand einen Eisenring und deklarierte ihn zum „objet trouvé“, zum „Enduring Ornament“. Es dürfte das erste Fundstück gewesen sein, das Eingang in die Kunstgeschichte fand. Ihr Ehemann meldete sich im Sommer zum deutschen Kriegsdienst zurück, erleichterte Elsa um ihre Ersparnisse und verbrachte, nachdem die französische Marine den Dampfer mit den deutschen Freiwilligen abgefangen hatte, die Kriegszeit im Kerker.
Der Kriegsbeginn im fernen Europa muß Elsas Kreativität forciert haben. Sie stand Modell, entwarf exzentrische Kostüme, verfaßte Gedichte, färbte ihr kurzes Haar in grellen Farben, schminkte die Lippen schwarz, klebte sich eine Briefmarke auf die Wange und führte mit einem blinkenden Rücklicht am Gesäß fünf Hunde an einer goldenen Leine auf der Straße spazieren: „Autos und Fahrräder haben Rücklichter, warum nicht ich?“ Im Dezember 1915 posierte sie für die „International News Photography“ in einer gestreiften, knielangen Hose, einem Fantasieoberteil und einer Fliegerkappe, in die sie eine Vogelfeder gesteckt hatte. Die „Times“ publizierte einen langen Artikel: „meine Ausdrucksform ist der Protest gegen alles Konventionelle“, ließ sie verlauten.
Im Winter 1915/16 wohnte sie im selben Haus wie Marcel Duchamp, mit dem sie nächtelang debattierte. Duchamp verweigerte sich jedoch standhaft ihren Verführungskünsten. 1916 lernte sie Djuna Barnes kennen und begann eine Affaire mit dem Maler Douglas Gilbert Dixon, der sich wegen ihr scheiden ließ. 1917 bewarb sich Elsa bei dem elf Jahre jüngeren Maler George Biddle in Philadelphia als Modell. Als sie sich vorstellte, wollte Biddle die 43jährige erst einmal nackt sehen. Sie öffnete den scharlachroten Regenmantel, unter dem sie nicht viel trug: Tomatenmarkdosen über den Brustwarzen, die mit grüner Schnur verknüpft waren, daran baumelte ein kleiner Käfig mit einem Kanarienvogel; am Arm einige Gardinenringe, die sie aus einem Kaufhaus entwendet hatte. Als sie den mit vergoldeten Karotten dekorierten Hut abnahm, kam ihr feuerrotes Kurzhaar zum Vorschein.
Im Frühjahr 1917 reichte Duchamp unter dem Kunsttitel „Fountain“ ein Urinal für die Jahresausstellung der Society of Independent Artists ein, den Prototyp eines Alltagsobjekts, das durch Kontextwechsel zum Antikunstwerk avancieren sollte. Die Idee sei von einer Freundin, schrieb Duchamp an seine Schwester Suzanne. Es könnte Elsa gewesen sein.
In der Zwischenzeit wurde die Baroness der Spionage verdächtigt und drei Wochen eingesperrt. Im Juni 1918 stellte die „Little Review“ sie vor, Gedichte wurden veröffentlicht, um, wie es hieß, mit dieser „Wahnsinnskunst“ gegen den herkömmlichen Kunstbetrieb zu protestieren. Neben James Joyce galt Elsa einige Zeit als Galionsfigur der „Little Review“. Als sie von Jane Heap, der Herausgeberin des Magazins, zum ersten Mal empfangen wurde, trug sie einen schottischen Kilt, mit Möbelborten um die Gamaschen, langen Eisbecherlöffeln an der Baskenmütze und einem mit Schrot gefüllten Ring am Finger. „Vor ihrem Busen baumelten zwei Tee-Eier, von denen das Nickel abgeblättert war“, erzählte Heap später. Für ihr Dasein als öffentliche Person rasierte sich Elsa das Haupthaar ab und färbte die Glatze mit Zinnober.
Als im Mai 1919 in dem Gedicht „König Adam“ eine „klitorisgesteuerte“ Frau ihren Liebhaber zu Cunnilingus aufforderte, fiel dies in mehreren US-Bundesstaaten unter die Zensur. Viele ihrer Werke blieben unveröffentlicht. In „Ein Dutzend Cocktails“ schrieb sie über Kondome (Kein Jungfernlolly für mich – Ja – wir haben keine Bananen, mein Mund ist lüstern – Ich esse sie immer – – – – Sie haben prima Zelluliodschläuche – alle Größen – Diabolisch gefärbt wie der Hintern eines Pavians.“). Im April 1921 war Elsa in dem von Man Ray und Duchamp herausgegebenen Heft „New York Dada“ mit einem Gedicht und zwei Abbildungen vertreten, die beiden Männer drehten obendrein einen Film: „Elsa, Baroness von Freytag-Loringhoven, ihr Schamhaar rasierend“. 1922 schrieb Ezra Pound ein Dada-Gedicht über sie. Im Mai 1924 veröffentlichte Hemingway gegen den Willen des Herausgebers Ford Madox Ford drei von Elsas Gedichten in der „Transatlantic Review“ und riskierte damit seinen Job als Redaktor.
Elsas exzentrische Aktivitäten blieben nicht unumstritten. „Eine tödliche Attacke auf die Kunst“, schimpfte die Kritikerin Lola Ridge, für die Dichterin Evelyn Scott war die Baroness „bloß eine nackte Orientalistin, die im Sextanz ihrer Religion feierlich unanständige Gesten macht“. Ganz anders Jane Heap: „Die Baroness ist die erste amerikanische Dada, sie ist die Einzige auf der Welt, die sich Dada kleidet, Dada liebt, Dada lebt.“
Schon im April 1923 war die Elsa nach Berlin zurückgekehrt, beantragte erfolglos eine Kriegswitwenrente, wurde von ihrem Vater enterbt, schlug sich als Zeitungsverkäuferin auf dem Kudamm durch. Djuna Barnes schickte ihr Pakete mit Kleidern, Büchern und Geld. Auch Peggy Guggenheim half ihr aus der Ferne. Im Juli 1924 beantragte sie im französischen Konsulat ein Visum, mit einem Kuchen und brennenden Kerzen auf dem Kopf. Nach einem Raubüberfall wurde sie von Angstattacken heimgesucht, infolge eines Zusammenbruchs auf offener Straße wies man sie in eine Anstalt ein, nach der Entlassung blieb sie völlig verarmt weiter auf die Hilfe ihrer Freunde angewiesen. Im April 1926 reiste sie nach Paris, traf Djuna Barnes und die Surrealistin Mary Reynolds, eröffnete eine Schule für Aktmodelle, die nach zwei Monaten jedoch wieder geschlossen werden mußte. Am 14. Dezember starb Elsa von Freytag-Loringhoven in ihrer Pariser Wohnung an einer Gasvergiftung, mit ihr starb Pinky, ihr Lieblingshund.
Im New Yorker Museum of Modern Art, in Philadelphia und in privaten Sammlungen sind Objekte der Dada-Lady erhalten geblieben, darunter das „Limbswish Ornament“ aus dem Jahr 1920, eine 55 Zentimeter hohe Metallfeder, die sich um eine troddelige Vorhangquaste windet. Das Stück war ursprünglich an einem gebogenen Draht befestigt; Elsa trug es, statt eines Colts, an einem Hüftgürtel wie eine Art Unterleibspeitsche. So bewaffnet, stolzierte sie die Fifth Avenue entlang, womöglich hat sie sich der Empfehlung erinnert, daß, wer hinaus zu den Männern gehe, die Peitsche nicht vergessen solle.
© W.Sofsky 2016
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