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Kischinew 1903
In der besssabarischen Hauptstadt Kischinew kam es an Ostern 1903 zu einem Pogrom, bei dem 49 Juden getötet, etwa 600 verletzt, viele jüdische Frauen vergewaltigt, 700 Wohnhäuser zerstört und ausgeplündert und 600 Geschäfte verwüstet wurden. 2000 jüdische Familien wurden obdachlos.
Am 29.April 1903 war im „Czernowitzer Tagblatt“ der Bericht eines Augenzeugen zu lesen: „Am Ostersonntag, dem 6. d. M. alten Stils gegen zehn Uhr morgens schon sah man einige hundert Bauern die Stadt nach verschiedenen Richtungen durchziehen. Zuerst eröffneten sie ein Steinbombardement gegen jüdische Häuser und Geschäftslokale. Man hielt die Leute anfänglich jedoch für eine Schaar Betrunkener, welche sich einen kleinen Exstraspaß erlaubten. Mehrere jüdische Einwohner der Stadt begaben sich gleichwohl sofort zum Gouverneur von Bessarabien und baten ihn um Schutz gegen die Ausschreitungen des Pöbels. Der Gouverneur versprach, bald Ordnung zu schaffen, vorläufig jedoch bitte er die Deputation, zu veranlassen, daß sich alle Juden in die Wohnungen zurückziehen und bis auf Weiteres nicht ausgehen. Der Tag verlief auch sonst ruhig und still, bis auf einige zerbrochene Fensterscheiben kam nichts Beunruhigendes vor. Am zweiten Tage entwickelte sich schon in aller Morgenfrüh das Schauspiel, das mittelalterlicher Fanatismus der Welt geben wollte. Etwa sechs- bis achttausend Bauern versammelten sich und drangen gewaltsam in die Häuser ein, mordeten und plünderten, was sie fanden. Was sie nicht mitnehmen konnten, wurde auf die Straßen geschleppt und zerstört. Die Bäume waren weiß von den Federn des zerrissenen Bettzeugs. Juwelen und Goldarbeiten wurden auf der Straße mit Steinen zermalmt, Seiden- und Sammtstoffe wurden zerrissen und verbrannt. Menschen mit herausgerissenen Zungen wurden auf der Straße tot aufgefunden, Kinder entzwei gerissen, anderen wurden die Eingeweide aus dem Bauch gerissen und über die Gasse geschleift. Ein solches Morden, wie es wohl noch nie und nirgends vorgekommen sein mag. Die Metzeleien dauerten bis zum 8. d. M. um 12 Uhr nachts. Die Polizei rührte keine Hand und auch das Militär stand unbeweglich da, es war ohne Kommando und tat nichts, um die Unglücklichen vor der erwachten Bestie in den Menschen zu schützen.“
Die Ausschreitungen begannen nach dem österlichen Kirchgang. Der Mob wurde von christlichen Priestern angeführt. Das Massaker führte international zu Reaktionen gegen das Regime des Zaren. In London, Paris und New York kam es zu Demonstrationen. Theodore Roosevelt schickte einen Protestbrief an den Zaren. Zehntausende russische Juden wanderten nach Westen, in die USA oder Palästina aus. Gorki und Tolstoi bekundeten ihr Entsetzen, Karl Kautsky nahm das Blutbad zum Anlaß, die „Judenfrage“ aus marxistischer Sicht zu erwägen. Vierzig Jahre später wurde Kischinew (heute Chisinau, die Hauptstadt der Republik Moldawien) zu einem der ersten Schauplätze des Holocaust).
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