Wolfgang Sofsky
Duccio: Das Ohr des Malchus
Kurz nach Giotto (im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts) hat auch Duccio die Szene vom Ohrabschneider Petrus und der Gefangennahme Jesu auf der Rückseite der Maestà festgehalten. Die Tafel befindet sich heute im Dommuseum zu Siena. In der gleichfalls ziemlich turbulenten Szene attackiert der graubärtige Petrus den Malchus jedoch nicht von hinten, sondern direkt von vorn. Die Feinde sehen einander ins Gesicht. Malchus soll wegen des abgeschlagenen und dann notdürftig angeheilten Ohrs von seinem Wohltäter wenig angetan gewesen sein. Laut Johannes Chrysostomos und weiterer altkirchlicher Auslegung soll der geheilte Malchus eben jener Knecht gewesen sein, der Jesus beim peinlichen Verhör vor Hannas mitten ins Gesicht schlug. Aus Christensicht gilt solches Verhalten als besonders verabscheuenswürdig. Erst wird einer wundersam gnädig geheilt, und dann rächt er sich trotzdem für das erlittene Übel, anstatt in tiefer Dankbarkeit zu entbrennen für ein Wunder der Wiedergutmachung, das aus schlechtem Gewissen entsprang. Seitdem soll Malchas, so die Legende, ein ehr- und hoffnungsloses Leben führen, dem „Ewigen Juden“ gleich, bis zur Stunde des Jüngsten Gerichts. Man erkennt unschwer, wie die Tat des übereifrigen Ohrabschneiders Petrus zu einer der Wurzeln des christlichen Antijudaismus wurde.
© WS 2018
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