In Pestzeiten sucht die Gesellschaft nach Sündenböcken, um ihnen eine persönliche Schuld für das allgemeine Unheil anzulasten. Im Fall der Tiergesellschaft traf es den Esel, auf den am Ende alle Tiere losgingen. Daß Tiere sich wesentlich anders verhalten als Menschen, davon ging der große Barockpoet La Fontaine in seinen Fabeln natürlich nicht aus. Die Meute und der Sündenbock sind universale Mechanismen der Verfolgung. La Fontaine kannte die Mechanismen des Sozialen so gut, daß man in nahezu jeder Fabel das Getriebe der Menschengesellschaft wiedererkennen kann.
Die pestkranken Tiere
Ein Unheil, alles Schreckens Born, Das einst der Himmel schuf im Zorn Als Rach‘ und Strafe für der Erde Missetaten, Die Pest da man sie doch bei Namen nennen muß – Die wohl an einem Tag anfüllt den styg’schen Fluß, Bekriegte einst der Tiere Staaten. Nicht alle starben, doch blieb keiner ganz verschont: Nicht einen sah man, dem es lohnt, Ein schleichend Leben noch zu fristen; keine Speise Weckt‘ ihr Gelüst in alter Weise: Nicht Wolf noch Fuchs erspähten mehr Die sanfte unschuldsvolle Beute; Die Turteltäubchen flohn umher, Da Liebe nimmer sie erfreute. Der Leu hielt Rat und sprach: »Ich glaub‘, ihr Freunde, dies Verderbenschwangre Unheil ließ Der Himmel zu ob unsrer Sünden. Der Schuldigste von uns nun soll Sich opfern dem Geschick und der Himmlischen Groll; Vielleicht daß alle wir dadurch Genesung finden. Lehrt die Geschicht‘ uns doch, daß solcher Opfer Kraft In gleichem Falle Rettung schafft. Verhehlen wir uns nichts, daß rücksichtslos man sehe, Wie’s mit unsrem Gewissen stehe! Was mich betrifft, so hab‘ ich aus Gefräßigkeit Manch armes Schaf dem Tod geweiht. Was hatten sie für Schuld? Gar keine; Manchmal – gesteh‘ ich – ward gefressen unbeirrt Auch der Hirt. Ich will mich opfern, wenn’s sein muß; jedoch ich meine, Gut wär’s, wenn jeder sich anklagen wollt‘ gleich mir. Scheint es doch wünschenswert, daß sich nach Fug und Rechte Der Schuldigste zum Opfer brächte.« »»Sire«« sprach der Fuchs »»ein gar zu guter Fürst seid Ihr; Ihr zeigt ein Ehrgefühl, das nur zu zart und fein ist. Schafe fressen, dies Pack, das dumm und so gemein ist, Heißt Sünde das? Nein, nein! Daß Ihr sie würgtet, war, Für sie ’ne Ehre noch sogar. Vom Hirten, den Eu’r Hoheit fraßen, Sag‘ ich nur: es geschah ihm recht; Er zählt zu jenen, die ein eingebildet Recht Über die Tiere sich anmaßen.«« So sprach der Fuchs; es jauchzt‘ ihm zu der Schmeichler Schar. Von nun an durfte keiner gar Dem Tiger wie dem Bär und andern Großen wagen Das mind’ste Unrecht nachzusagen. Das ganz biss’ge Volk bis auf den Fleischerhund, Sie taten alle sich als kleine Heil’ge kund. Nun kam der Esel dran und sprach: »Als meine Straße ’ne Klosterwiese einst berührt, Hat Hunger, frisches Gras und, wie ich wohl mutmaße, Irgend ein Teufel mich verführt: Ich fraß die Wiese ab, soweit die Zunge reichte; Ich hatt‘ kein Recht dazu, wenn ich soll ehrlich sein.« Da stürmten mit Hallo sie auf das Langohr ein; Ein redelist’ger Wolf bewies, nach dieser Beichte Sei’s klar geboten, daß man ihn zum Opfer nähm‘, Den räud’gen Lump, von dem das ganze Unheil käm‘! Zum Tod ward er verdammt ob seiner kleinen Schwächen. Zu fressen fremdes Gras! Welch schmähliches Verbrechen! Der Tod allein vermag’s zu rächen! So klang das Urteil; streng an ihm vollzogen ward’s.
Bist stark du oder schwach? Das ist die Frag‘; es sprechen Die Herren Richter dich danach weiß oder schwarz.
Das Projekt „Barocco“ des Holbach-Instituts erörtert ausgewählte Fragen zur Kulturgeschichte des Barock und Rokoko. Die Geschichte des Barock umfaßt nicht nur die Künste, die Architektur, Musik, Literatur oder Malerei, sondern auch die Geschichte der Ideen, der Macht und Gesellschaft. Aufgegriffen wird u.a. auch das Problem der kulturellen Macht und ästhetischen „Überwältigung“. Ein Detailziel ist es, ästhetische Wirkungen an den Objekten selbst zu entziffern. Kulturhistorisch umfaßt die Epoche des internationalen Barock ungefähr den Zeitraum von 1580 bis 1780. Sie ist keineswegs mit einer national ausgerichteten Kultur- oder Literaturgeschichte zu erfassen. Zwischenergebnisse und Fundstücke sind auf der folgenden Seite zu lesen: https://barockwelt.wordpress.com
Seit den 1540er Jahren bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts betreibt die katholische Obrigkeit (Staat plus Kirche) in deutschen Landen eine massive Politik der Rekatholisierung. Sie zielt auf die Eliminierung des Protestantismus in den Regionen, in denen sich Calvinisten, Reformierte oder Lutheraner durchgesetzt hatten. Davon betroffen war etwa ein Viertel der Bevölkerung im Heiligen Römischen Reich, die Schwerpunkte lagen in den Habsburgischen Besitzungen, einigen geistlichen Reichtsterritorien sowie im Herrschaftsgebiet der Wittelsbacher. Die zentralen Regionen waren daher neben Kurtrier, Fulda, Hochstift Würzburg und Bamberg und dem kurmainzischen Eichsfeld auch Westfalen, Österreich, Böhmen, Schlesien, Kurpfalz, Oberpfalz, Bayern.
Rekatholisierung heißt Vertreibung protestantischer Prediger und die Übernahme der Kirchen durch katholische Pfarrer, systematischer Unterricht, die Katechese, durch Jesuiten, die Vertreibung und Enteignung protestantischer Gläubiger, die Entlassung der Beamten, die Verbrennung von Schriften, die Exekution vermeintlicher Anführer, vor allem aber die systematische Dauerkontrolle des Alltagslebens. In der Chronik der Stadt Falkenau an der Eger wurden z.B. 1626 die Artikel zur Rekatholisierung der Bürger aufgeführt: „1. Wer einem Prädikanten Aufenthalt gewährt, soll seine Güter und sein Leben verlieren. 2.Wer einen katholischen Pfarrer, seine Predigtworte oder Gebärden verspottet, soll verbannt werden und aller Güter verlustig sein. 3.Wer in seinem Hause unkatholische Gottesdienste halten läßt, soll verbannt werden und aller Güter verlustig sein. 4. Wenn ein Hausvater an Sonn- und Festtagen nicht zur Messe geht, muß er vier Wachslichter zur Kirche geben. 5. Wer in seinem Hause die Jugend heimlich lehrt, dem soll alles genommen und er soll dann vom Schergen zur Stadt hinaus geführt werden. 6.eines Menschen Testament soll gültig sein, der nicht katholischer Religion ist. 7.Kein unkatholisches Kind darf ein Handwerk erlernen. 8. Wer über Gott, die heilige Jungfrau, die Heiligen oder die Kirchengebräuche ungebührlich redet oder singt, der soll ohne alle Gnade am Leben gestraft und seiner Güter verlustig sein.“
Die unheilige Allianz von fürstlicher und kirchlicher Obrigkeit verknüpfte mehrere Elemente von Machtpolitik. Die Indoktrination und Propaganda zielte auf ideologische Vorherrschaft, auf geistige Unterwerfung. Die Enteignung zielte auf ökonomische Besitznahme und Bereicherung. Säkularisierte Kirchengüter wurden restituiert und gelangten so wieder in kirchlichen Besitz. Der soziale Ausschluß „reinigte“ die Gesellschaft von unerwünschten Mitgliedern und zielte auf ein homogenes Kollektiv, das sich auch durch Denunziation selbst kontrollierte. Der neuzeitliche „Absolutismus“ der Fürstenherrschaft hatte somit eine totalitäre Tendenz, obwohl die praktische Durchsetzung manchenorts durch Personalmangel (fehlende Prediger) und hinhaltenden Widerstand der Protestanten im religiösen Untergrund behindert wurde. In manchen Regionen wie der Oberpfalz, Mähren oder der Rheinpfalz dauerte es Jahrzehnte, bis die Pfarrstellen mit katholischen Priestern besetzt waren. In Oberösterreich dagegen kam es zu einem Aufstand gegen den bayrischen Herrscher Maximilian, der das Land zudem mit hohen Militärsteuern ausplünderte. Die Einwohner wurden vor die Alternative gestellt, entweder zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Als man infolge des Personalmangels italienische Missionare ins Land holte, bestellte man die Männer einiger wiederstrebender Pfarreien am 15.5.1626 auf Schloß Frankenfeld und rügte sie wegen unbotmäßigen Verhaltens. 17 lokale Beamte wurden durch Los ausgewählt und hingerichtet. Bei dem folgenden Aufstand protestantischer und katholischer Bauern und Bürger wurde die Hauptstadt Linz belagert. Es bedurfte eines Heeres von 12.000 Mann und eine Reihe offener Feldschlachten, bis der Aufstand niedergeschlagen war. Statt der verhaßten italienischen Missionare wurden 300 Ordensgeistliche eingesetzt, um die Pfarrstellen zu übernehmen.
Mit dem Kunst- und Lebensstil des Barock hatte die Rekatholisierung einen direkten Zusammenhang. Zwar dauerte der Machtprozeß bereits an, als die ersten barocken Kirchen erbaut und Bilder gemalt wurden. Aber die katholische Ästhetik der simplen Wiedererkennbarkeit und emotionalen Überwältigung zum Zwecke der konfessionellen Propaganda lenkte zunächst den barocken Stil. Die Auftraggeber waren Päpste, Kardinäle, Fürsten. Die durch den protestantischen Bildersturm geleerten Kirchen benötigten neue Altäre und eine neue Bildausstattung, was zu einer regelrechten Bilderflut zum konfessionellen Gebrauch führte. Eine neue Barockfassade galt als Symbol einer rekatholisierten Kirche wie z.B. bei „Maria vom Siege“ auf der Prager Kleinseite. Neue Klöster im barocken Baustil besetzten als neue Zentren des Katholizismus vormals protestantische Regionen. Barock war zunächst Symbol des katholischen Siegs.
Eine Kulturgeschichte des Barock ist undenkbar ohne eine Vorstellung von den religiösen Machtkämpfen, Vertreibungen, Verfolgungen und der staatlichen Homogenisierung der Bevölkerung. Die konfessionelle „Säuberung“ ging einher mit der ideologisch-religiösen Abrichtung durch konfessionelle „Bildungs“einrichtungen, die Vernichtung von Außenseitern und die Installation formierter Frömmigkeit in den neuen Kirchen. Wim Blockmans schildert in seiner famosen Kontinentalgeschichte der europäischen Macht von 1998 in aller Kürze die Verstaatlichung der Religion und die Konfessionalisierung des Staates in einem Zeitraum, in den auch der frühe Barock fällt:
„Die erzwungenen Migrationsbewegungen Hunderttausender Juden, Moslems und Protestanten stärkten zwischen 1492 und 1700 die religiöse Homogenität der europäischen Staaten, wodurch diese auch deutlicher voneinander unterschiedene territoriale Identitäten annahmen. England, die Vereinigten Niederlande und Schweden waren die protestantischen Großmächte: Spanien, Österreich und schließlich auch Frankreich die katholischen. Kirchen wurden fortan Staatskirchen. In Polen wurde die orthodoxe Kirche gar unter Beibehaltung der Lehre und Riten der päpstlichen Macht unterstellt. In den überwiegend orthodoxen Gebieten unterschied man neben der griechischen und bulgarischen eine serbisch- und eine russisch-orthodoxe Kirche. Letztere unterstand seit 1589 einem eigenen Patriarchen in Moskau, der den politischen Belangen des Zaren diente.
Jeder religiös homogenisierte Staat baute ein System zur Beeinflussung seiner Untertanen auf, das auf die Bildung einer geschlossenen konfessionellen Identität abzielte, in der die Regierungsgewalt Staat und Kirche gleichermaßen umfaßte. Dieses System machte den Ausschluß heterogener Einflüsse notwendig, und solches erforderte Zensur und politische Kontrolle. Deren Wichtigkeit hatte beträchtlich zugenommen, weil ab dem 16. Jahrhundert neue Ideen viel rascher zu verbreiten waren als in den Jahrhunderten zuvor: Gedruckte Propagandatexte, Pamphlete und mehr oder weniger symbolische Abbildungen ermöglichten dies. Bibelübersetzungen und theologische Schriften wurden von den Reformern rasch in Druckform verbreitet. Daneben hatte der Humanismus das Interesse am Bildungswesen und den an die Ergebnisse desselben beträchtlich erhöht, wodurch an erster Stelle die Protestanten und später auch die Katholiken versuchten, ihr Gedankengut über ein festgefügtes Schulsystem den Menschen von kindauf einzuprägen. Die Kontrolle über diese neuen, mächtigen Mittel der Einflußnahme erforderte somit alle Aufmerksamkeit der fürsorglichen Obrigkeit. Die katholische Kirche versuchte mit einem Index verbotener Bücher (erste Ausgabe 1559) ihre treue Gefolgschaft vor unorthodoxen Einflüssen zu bewahren und organisierte öffentliche Verbrennengen als ketzerisch erachteter Bücher. Der Verlust religiöser Mündigkeit im konfessionellen Einheitssystem ging mit dem Abbau politischer Rechte einher.
Die politische und kulturelle Elite trachtete mit vereinten Kräften sowie allen Mitteln, notfalls auch durch Zwang und Abschreckung, den Untertanen ein neues Normsystem zu vermitteln. Prediger, Universitätsprofessoren, Lehrer an den neuen Lateinschulen, Richter, Zensoren und Verleger wurden die Wegbereiter eines neuen politischen und sozialen Konsenses, der sich als regelrechte Kulturoffensive über die Untertanen ergoß. Auf katholischer Seite wurden die Gerneindepfarrer nach den Vorschriften des Konzils von Trient (1545-1563) besser ausgebildet und von ihren Bischöfen schärfer kontrolliert, die päpstliche Macht wurde verstärkt, und als Vorhut der schwer disziplinierten gelehrten Geistlichkeit nahm der1534 gegründete Jesuitenorden das Bildungswesen in die Hand. Katholiken und Protestanten nutzten gleichermaßen die Sorge für die Armen, Kranken und Bedürftigen, um diese Abhängigen strikt in die Lehre einzubinden. Die Disziplinierung der Gläubigen als Untertanen und als Mitglieder einer Kirchengemeinschaft war das offensichtliche Bestreben aller religiös Gesinnten. Die Reformierten jedoch traten in den kleineren Territorien, wo sie an der Macht beteiligt waren, noch strenger auf als die Katholiken.
Die Verflechtung von Kirche und Staat innerhalb der Grenzen des Staates ermöglichte eine viel stärkere Einflußnahme als je zuvor, und das kam beiden Parteien sehr gelegen. Die Kirche sah sich durch den starken Arm des Staates in der Verbannung unorthodoxer Personen, Schriften und Abbildungen unterstützt und bekam allen Raum, ihr Weltbild in den Pfarreien und Kirchspielen, in Schule und Sozialfürsorge durchzusetzen. Diese immer zahlreicher werdenden Institutionen zur sozialen Kontrolle, geleitet von den Kirchen und bezahlt von den Gläubigen selbst oder durch Einkünfte aus säkularisierten oder nicht. säkularisierten kirchlichen Patrimonien – kostete den Staat nichts.
Der Höhepunkt der konfessionellen Kulturoffensive läßt sich zwischen 1570 und 1650 ausmachen. Sie half dem Staat bei der weiteren Hierarchisierung der Gesellschaft im Sinne autoritärer Bevormundung, ausgehend vom Gott zum König und weitergegeben über dessen kulturelle Agenten (Richter, Predigen Priester. Lehrer usw.) bis hin zum Familienvater. Jede dieser Ebenen paßte funktional in ein Schema des Gehorsams: Frau und Kinder dem Familienvater gegenüber, sie alle gegenüber ihren geistlichen Leitern, diese wiederum gegenüber dem König, der der damaligen Auffassung zufolge seine Macht direkt von Gottes Gnaden bezog. Die eng mit dem Staat liierte Kirche erhielt eine einzigartige Gelegenheit, allen Untertanen die entsprechende Gottesfurcht und die Angst vor dem Bösen einzutrichtern, der Staat fand zur Disziplinierung der Untertanen die erträumte Schar unbezahlter Mitarbeiter. Der Staat begab sich mit seinem gesetzgeberischen und richterlichen Auftreten weit auf kirchliches Terrain, indem er Ordonnanzen in Sachen Ketzerei, Zauberei. Fluchen, Sittlichkeit und sogar häßlichen und unehrenhaften Sprachgebrauchs erließ etwa Karl V. im Jahr 1554.
Besonders hart gingen die katholische Kirche und die ihr wohlgesonnenen Staaten gegen sogenannte Ketzer, (Protestanten) und, besonders zwischen 1570 und 1630 gegen vermeintliche Hexen vor. Für beide Kategorien wurden Zehntausende von Scheiterhaufen entzündet., weil angeblich nur das Feuer imstande war, ihre Sünden gänzlich zu tilgen. Das Herausgreifen von Sündenböcken erwies sich als effektive Disziplinierungsmaßnahme, manchmal initiiert von örtlichen Machthabern, immer aber ermutigt durch Kirche und Staatsregierung, auch in protestantischen Ländern. Kriminalisiert wurden hauptsächlich alleinstehende Landfrauen, die in wirtschaftlichen Krisenzeiten ihr Einkommen verloren und an den Rand der Gesellschaft abgedrängt wurden. Im allgemeinen Klima religiöser Hetze war es leicht, sie heidnischer, als teuflisch interpretierter Praktiken zu verdächtigen. Auch Hebammen liefen Gefahr, derartig stigmatisiert zu werden. Seit dem Erscheinen des Hexenhammers zweier deutscher Inquisitoren im Jahr 1487 (Malleus Malelicarum), die sich auf eine päpstliche Bulle des Jahres 1484 beriefen, galten Hexenprozesse als kanonisch rechtmäßig. Gesellschaften konnten unter dem Druck der politisch-religiösen Repression ihre Ängste auf schutzlose Frauen projizieren, die in das von der Inquisition geschaffene Muster paßten. Sie trugen damit zur Stärkung der Disziplin bei, die die Machthaber erzwingen wollten. Diese sahen die Gelegenheit gekommen, durch die Hexenverfolgung ihre normative Macht selbst bis in die abgelegensten ländlichen Gegenden spürbar zu machen. Es ist bemerkenswert, daß nicht allein die stark von der katholischen Gegenreformation geprägten Staaten eine intensive Hexenverfolgung kannten, etwa Bayern, die südlichen Niederlande und Lothringen. Allein in Lothringen wurden zwischen 1580 und 1630 dreitausend Hexenprozesse geführt, die in 90 Prozent der Fälle auf eine Verurteilung hinausliefen. Aber auch in bestimmten protestantischen Gebieten wie Schottland und Schweden verstärkte die Hexenverfolgung die penetrative Kraft der Kirchen. Auffallend ist die geringe Verbreitung in Spanien, das bereits seine maurischen Sündenböcke verfolgt hatte, sowie in den Vereinigten Niederlanden, wo durch die religiöse Toleranz, das wirtschaftliche Wachstum und das Fehlen einer absolutistischen Zentralmacht wenig Impulse zu derartigem Terror existierten.
Diese gesamte Disziplinierungsaktivität verbannte natürlich nicht jeglichen Aber- und Unglauben, produzierte aber verglichen mit den recht imbeherrschbaren Massen früherer Jahrhunderte gehorsamere, folgsamere, ehrerbietigere und damit brauchbarere Untertanen. Dank dieser Kulturoffensive konnten die Kosten für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung beträchtlich gesenkt. Werden, was eine bemerkenswerte und vielleicht auch notwendige Leistung der immer größer werdenden Staatsverbände war. Leider setzten die Staaten auch weiterhin die derart eingesparte Energie für externe Machtbestrebungen ein. Im 18. Jahrhundert nahm der staatliche Terror an Grausamkeit ab. Die zurückliegenden Kampagnen hatten disziplinierende Wirkungen gezeitigt.“
Lange Zeit hatte der Barock mit seiner Spätphase des Rokoko in Deutschland keinen guten Ruf. Der Klassizismus von Winckelmann, Schiller und Goethe verachtete den Barock und seine Vorliebe für die römische Antike. Dem norddeutschen Protestantismus und flämischen Calvinismus mit ihrer Ideologie der innerweltlichen Kargheit ohne Bildnisse war der Barock nichts als Ausschweifung, Exzeß, Schwulst, Kitsch. Ihnen galt der Barock einzig als Propagandastil der katholischen Gegenreformation. Das hielt geschmacksversierte Fürsten jedoch nicht davon ab, einen barocken Hof zu betreiben und entsprechende Bauwerke errichten zu lassen (Frauenkirche, Zwinger, Sanssouci etc.).
Obwohl der Geburtsort im päpstlichen Rom lag und die neuen Orden und Kardinäle den Neubau barocker Kirchen betrieben, ist weder der Bau- und Lebensstil des Barock konfessionell beschränkt noch ist er allein auf den Katholizismus fixiert. Gewiß lagen die ersten Zentren in Rom, Turin, Madrid, Wien und Prag (nach der Schlacht am Weißen Berg), doch die Herrschaftsarchitektur der Schlösser und Stadtpaläste ist eine profane Tatsache, die Themen der Bilder reichen weit über religiöse Themen hinaus, und im Zeitalter des Barock entstehen nicht nur Akademien, moderne Astronomie, Mathematik und andere Wissenschaften, sondern auch Formen der Freigeisterei und der frühen Aufklärung. Nicht nur Bruno, Galilei, Isaac Newton, Descartes, Pascal, Spinoza, Hobbes, Locke, Hume oder Leibniz lebten in dieser Zeit, sondern auch Cervantes, Moliere, Racine, Milton, Donne, Swift, Defoe, Hogarth, Händel, Bach, Vivaldi, Corelli, die französischen Moralisten und Enzyklopädisten. Ideologisch ist das Barockzeitalter eine Epoche verschärfter Konfessionalisierung, aber die Epoche kennt auch zahllose intellektuelle Varianten, Abweichungen, Inventionen.
Der Barock war ein internationaler Stil. Obwohl es regionale und „nationale“ Zeitverschiebungen gab, finden sich z.B. viele barocke Bauwerke nicht nur in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Bayern oder Österreich, sondern auch in Lateinamerika, England, den Niederlanden, Dänemark, Preußen, Sachsen, Polen, der Ukraine, Rußland, Sibirien. Infolge der Kolonialisierung verbreitete sich der Baustil bis nach Tomsk, Sankt Petersburg, Charkiw, Stockholm, London, Havanna, Lima, Bogotá.
Politisch ist die Epoche geprägt von der Zentralisierung der Macht in einer Art „absolutistischer“ Herrschaft. Gesellschaftlich herrscht weiterhin eine Hierarchie der Stände, in der nicht die ökonomische Stellung den Ausschlag gibt, sondern das Prestige. Kulturell dominant ist die höfische Gesellschaft sowie die Politik der Konfessionen mit der Durchsetzung verbindlicher Formen der Frömmigkeit und des Glaubens.
Daß die Welt nichts als eine Bühne und die Menschen nur Rollenspieler sind, ist spätestens seit Shakespeare bekannt. Doch denkt man sich die Bühne meist als Ebene. Wie der Barock sogar den Himmel zur Bühne erklärt, hat Richard Alewyn, der große Germanist, beschrieben (R.A., Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, 1959):
„Das Theater stellt auch den Luftraum über den Köpfen in seinen Dienst. Und damit ist nicht nur einer szenischen Not gesteuert, sondern auch ein sinnliches Bedürfnis befriedigt. Wie überhaupt freier Raum oder. leere. Fläche dem barocken Auge unerträglich sind,so wäre ihm auch die Leere über den Köpfen der Darsteller ein Ärgernis gewesen.
Damit aber wird der Bühne eine neue Dimension erschlossen. Das Theater der Renaissance hat sich mit der Bühnenebene begnügt. Auch die Sprechbühne des französischen und des protestantischen Klassizismus ist im wesentlichen eine Parterrebühne wie auch wiederum die nachbarocke Bühne des bürgerlichen Realismus. Wenn das barocke Theater sich nun in die Vertikale ausdehnt, erneuert und steigert es damit eine Errungenschaft des Mittelalters. Auch die mittelalterliche Bühne schon hatte den Luftraum benutzt. Da senkte sich der Engel der Verkündigung von der Kirchendecke hernieder, die Taube des heiligen Geistes schwebte am Strick über dem Markte, während sich von unten der Höllerachen öffnete, um Teufe auszuspeien oder Verdammte zu verschlingen. In der italienischen Sacra Rappresentazione überlebte dieser Apparat die Renaissance. Das Barock aber machte davon einen Gebrauch, von dem auch das Mittelalter sich nicht hätte träumen lassen.
Da erscheinen die heidnischen Götter mit ihrem mythologischen Fuhrpark. An ihrem charakteristischen Fahrzeug erkennt sie jedermann: Jupiter reitet auf einem Adler oder auf Donnergewölk, Juno wird von Pfauen, Venus von Schwänen, Eris von Drachen und‘ Helios von einem Rossegespann gezogen. Merkur reist auf seinen Flügelschuhen und Fortuna auf Kugel oder Rad durch die Luft. Unter Umständen erscheint die ganze Götterversammlung über der Bühne: der Olymp unter dem Vorsitz des Jupiter oder der Parnaß mit Apollo und den neun Musen. Im geistlichen Theater ist der Luftverkehr womöglich noch lebhafter: Engel, Allegorien und Träume senken sich hernieder, um zu segnen und zu stärken, Heilige, schweben aufwärts, von himmlischen Chören empfangen. Der Luftraum ist endlich die Zone der Apotheosen und Verklärungen, mit denen weltliche oder geistliche Spiele mit Vorliebe beschlossen werden.“
Die Ausdehnung der Bühne in die Vertikale betrifft jedoch keineswegs nur die Theaterbühne. Palast, Treppenhäuser oder Kirchenräume gelten ebenfalls als profane oder sakrale Bühne. Daher sind dort auch die Decken durch Bühnengemälde dekoriert. Wie die Kulissen die Theaterbühne in eine eigene Illusionswelt verwandeln, so stellt das Himmelsgemälde an der Kirchendecke, wie hier in Neresheim, eine Weltbühne des Glaubens und der Illusion dar. Dabei verwischt im Barock die Grenze zwischen Schein und Realität derart, daß die Transgression sich eher schleichend denn sprunghaft oder schockartig vollzieht.
„Das Barock dagegen komponiert ein Bild gern so in den Raum hinein, daß der Rahmen gleichzeitig ein Bestandteil der Dekoration des Raumes ist, und’verschleiert damit die ästhetische Grenze.
Im Kirchenschiff fast jeder barocken Kirche kann man bemerken, wie eine auf dem Altarbild gemalte Szene sich in den umgebenden plastischen Figuren und Architekturen physisch und geistig fortsetzt Die Stelle, wo die Illusionsmalerei ihre Triumphe feierte, befindet sich jedoch nicht in den niederen Regionen, die dem prüfenden Blick ausgesetzt sind. An den Decken der und mancher weltlichen Säle und Treppenhäuser, einem Ort, der gegen jede körperliche Annäherung gesichert ist, hoch oben, wo die Architektur endet, errichtet die Malerei ihr luftiges Reich. Das Auge, das die unteren Regionen des Kirchenraumes durchwandert, das sich in dem Dunkel der Kapellen abgemüht, das sich an den Massen von Marmor und Gold ersättigt hat, wird von der wachsenden Helligkeit unwillkürlich nach oben gelenkt und dort, wo es den Abschluß des Raumes erwartet, von einer Vision überrascht. Die Kirchendecke scheint entfernt. Die Architektur des Raumes setzt sich scheinbar in schwindelnde Höhen fort. Säulen und Gesimse sind bevölkert von klammernden, kletternden Gestalten, darüber öffnet sich ein luftiger Wolkentrichter, und in seiner Mitte kreist ein lichtes Getümmel verklärter Leiber, schwebend, stürzend, steigend, ein unirdisches Geschlecht, ohne Schatten und ohne Schwere. Allegorien schiffen triumphierend durch den Äther. Ein Heiliger schwebt, von unsichtbaren Kräften getragen, durch die sich lichtenden Wolkenränge empor, die Arme ausgestreckt, das Antlitz verklärt. In strahlender Höhe, deren wirkliche Entfernung sich jeder Berechnung entzieht, schwebt die Taube des heiligen Geistes, öffnet sich die Glorie einer höheren Welt.
Die jenseitige Welt des Glaubens ist von ganz anderer Beschaffenheit als die unsere, nicht körperlich und in einem ganz anderen Sinne wirklich, und so ist es auch durchaus einleuchtend, daß sie hier mit unkörperlichen Mitteln dargestellt ist, nicht als dreidimensionaler Raum aus massivem Material wie das Kirchenschiff, in dem der Betrachter steht, sondern als in bloßer perspektivischer Schein. Warum aber verwendet nun der Maler eine solche Virtuosität, diesem Schein den Schein der Wirklichkeit zu verleihen? Auch der gläubigste Kirchenbesucher glaubt ja nicht, daß es wirklich der Heilige Ignatius ist, der da oben auf Wolken in die Arme des ewigen Vaters schwebt Über die Unwirklichkeit des gemalten Vorganges kann der Maler nicht täuschen wollen. Aber über etwas anderes: Auch der ungläubigste Beobachter ist selten imstande, mit voller Sicherheit anzugeben, wo genau die plastische Realität aufhört und das Reich des gemalten Scheins beginnt.
Man konnte über den Abgrund, der die sinnliche von der übersinnlichen Welt trennt, keinen entschiedeneren Begriff haben als das Barock, und worauf es hier abgesehen ist, ist nicht die Täuschung über den Unterschied der Welt des Scheins und der Welt des Seins. Worauf es dem Barock ankam, war, die Grenze zu verwischen und damit den Grenzübertritt zu verschleiern. Man soll niemals ganz genau wissen, ob man sich noch im dreidimensionalen Raum befindet oder schon im zweidimensionalen Schein. Man soll etwa glauben, man sei noch diesseits, während man in Wirklichkeit schon jenseits ist, und man soll nie ganz den Zweifel verlieren, ob man auch wirklich schon drüben und nicht vielleicht doch noch hüben sich befindet. Der barocke Weg in das Jenseits ist ein Gleiten und nicht ein Sprung. Von dieser Ungewißheit über ihre Grenze geht aber nun eine eigentümliche Beunruhigung aus, die auch den Kern dieser Welt in Mitleidenschaft zieht. Wenn man niemals genau wissen ‚kann, wo die Wirklichkeit endet und die Täuschung beginnt, dann ist überhaupt die Realität der Welt in Frage gestellt. Wenn also die illusionistische Malerei an den Kirchendecken den Schein zu solcher Vollkommenheit steigert, dann geschieht es nicht in der Absicht, die Scheinhaftigkeit dieser illusionären Welt zu leugnen, es geschieht vielmehr, um die Wirklichkeit unserer realen Welt in Frage zu stellen.“
Die prägende Kunst des Barockstils (1600-1770) ist die Architektur. Deren wesentliche Merkmale sind bewegte, kraftvolle und plastische Formen. Bevorzugt werden oft geschwungene Linien, nicht zuletzt im Grundriß, und komplexe Raumkompositionen, die, wie im Falle des „radikalen Barock“ in Böhmen, mit bloßem Auge kaum zu ermitteln sind. Bewegung wird durch konkav und konvex geschwungene Bauelemente erzeugt. Haupträume wie die Vierung in den Kirchen werden oft durch Kuppeln hervorgehoben. Die Lichtregie erhält ein eigenes Gewicht. Sie dient nicht nur der Beleuchtung, sondern unterstützt nicht selten die kolossale Ordnung und die Tendenz ins Unendliche. Malerei, Stuck und Skuplturen werden in die Architektur zu einem „Gesamtkunstwerk“ zusammengefügt. Sowohl in der sakralen als auch in der Herrschaftsarchitektur der Stadtpaläste und Schlösser gilt der Prinzip einer theatralischen Inszenierung. Barockarchitektur erschafft eine eigene Welt, die prachtvoll ausgestattet ist durch wertvolle Materialien wie polierter oder imitierter Marmor, Gold und Silber bei Stuck und Altären. Kartuschen, Voluten, gesprengte Giebel oder konvexe Pilaster verwandeln bereits die architektonische Form in Schmuck. Lichtreflexe werden durch raffinierte Fensteröffnungen oder, wie in den Schlössern, durch Spiegel und spiegelndes Parkett erzeugt. Während die Kunst der Renaissance bestimmt war durch das Ideal der Schönheit, so gilt im Barock das Ideal der Erhabenheit und der unendlichen, sinnlichen Phantasie.
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